Missbrauchsprozess gegen Priester verdeutlicht Probleme im System

Wenn es um Missbrauch in der katholischen Kirche geht, fällt oft das Wort vom Systemversagen. Taten durch Priester weisen demnach über den Einzelfall hinaus. Was an diesen Vorwürfen dran ist, lässt sich derzeit am Prozess  gegen den Priester U. vor dem Landgericht Köln ablesen.
Wenn es um Missbrauch in der katholischen Kirche geht, fällt oft das Wort vom Systemversagen. Taten durch Priester weisen demnach über den Einzelfall hinaus. Von problematischen Männerbünden ist die Rede und von einem System, in dem hohe Amtsträger mehr um den guten Ruf der Kirche besorgt gewesen seien als um das Schicksal der Betroffenen.

Bild von Sang Hyun Cho auf Pixabay

Köln– Wenn es um Missbrauch in der katholischen Kirche geht, fällt oft das Wort vom Systemversagen. Taten durch Priester weisen demnach über den Einzelfall hinaus. Von problematischen Männerbünden ist die Rede und von einem System, in dem hohe Amtsträger mehr um den guten Ruf der Kirche besorgt gewesen seien als um das Schicksal der Betroffenen.

Nachtragsanklage wird in den laufenden Prozess eingebracht

Was an diesen Vorwürfen dran ist, lässt sich derzeit an einem Prozess vor dem Landgericht Köln ablesen. Der 70 Jahre alte Angeklagte – Priester U. aus dem Erzbistum Köln – soll in den 1990er-Jahren seine drei minderjährigen Nichten zum Teil schwer missbraucht und sich 2011 an einer Elfjährigen vergangen haben. In dem Verfahren, das seit November läuft, wurden weitere mögliche Betroffene offenbar.

Ihre Anschuldigungen gegen den früheren Pfarrer sollen im Zuge einer sogenannten Nachtragsanklage in den laufenden Prozess eingebracht werden. Damit bezieht das Gericht weitere Missbrauchsvorwürfe gegen U., die über die ursprüngliche Anklageschrift hinausgehen, in das laufende Verfahren mit ein. Der ehemalige Gummersbacher Priester und Krankenhausseelsorger in Wuppertal steht seit November vor Gericht, weil er sich zwischen 1993 und 1999 in 31 Fällen an seinen drei minderjährigen Nichten vergangen haben soll – davon in 3 Fällen schwer. Zudem soll der Geistliche im Januar 2011 zwei Mal eine Elfjährige missbraucht haben.

Mindestens vier weitere mutmaßliche Betroffene wurden dem Gericht während des Prozesses bekannt. Eine der Frauen habe an einem öffentlichen Verhandlungstag im Zuschauerraum gesessen und geweint, berichtete Richter Kaufmann bei der letzten Zeugenvernehmung vor zwei Wochen. Er habe sie angesprochen, sie habe ausgesagt und weitere mögliche Opfer benennen können. Mindestens einen Teil der Vorwürfe hat der Priester inzwischen gestanden.  Um den 24. Februar soll das Urteil gesprochen werden – es sei denn, es kommt zu größeren Terminverschiebungen. Vergangenen Dienstag wurde bekannt, dass sich der Geistliche mit dem Coronavirus angesteckt hat, für den heutigen Mittwoch ist die  Fortsetzung geplant

Vorgesetzte und Wegbegleiter des Priesters sagten in Prozess als Zeugen

Mehrere kirchliche Vorgesetzte und Wegbegleiter U.s sagten in dem Prozess als Zeugen aus, darunter der heutige Neusser Kreisdechant Hans-Günther Korr. Der frühere Jugendseelsorger im Bergischen Kreis war in den 1990ern in Gummersbach tätig, wo der Angeklagte lebte. U. war zu jener Zeit Diözesanpräses der Katholischen jungen Gemeinde (KjG) in Köln, blieb aber im Gummersbacher Ortsteil Lantenbach wohnen, wie Korr aussagte.

Dort sei U. für viele Menschen sozusagen der Ortsgeistliche und „sehr angesehen“ gewesen. Vor allem um Familien und Kinder in schwierigen Lagen – etwa bei Eheproblemen – habe er sich gekümmert. Zu U.s Kommunionunterricht hätten sogar Eltern aus Nachbargemeinden ihre Töchter und Söhne geschickt. „Die Leute hingen schon sehr an ihm“, sagte Korr.

Dieses Bild deckt sich mit den Aussagen anderer Zeugen: Demnach trat U. als selbstbewusster und engagierter Seelsorger auf, was vielerorts positiv aufgenommen wurde. Einige Eltern schlossen Freundschaft mit dem Geistlichen, fuhren mit ihm und ihren Kindern in den Urlaub und waren froh, wenn er bei der Betreuung der Kleinen aushalf.

„Das ist ein Spagat, der gar nicht zu leisten ist“

Doch es gab auch andere Stimmen und Äußerungen, die Anlass zur Sorge gaben. So berichtete Korr über die Frage eines Jugendlichen, ob er wisse, dass U. mit Kindern in die Badewanne gehe. Korr habe den Angeklagten mit dieser Behauptung konfrontiert. „Glaubst du das?“, habe U. ihm geantwortet. Und: „Die wollen uns was anhängen.“ Da er wusste, dass U. Pflegekinder hatte, habe er die Sache auf sich beruhen lassen, erklärte Korr vor Gericht.

Hier hakte der Vorsitzende Richter Christoph Kaufmann ein: U. habe doch gar nicht damit argumentiert, dass er im Rahmen der Hygiene mit seinen Pflegekindern bade. U.s Verteidigung sei stattdessen der Satz „Die wollen uns was anhängen“ gewesen. „Wen meinte er denn mit uns?“, fragte Kaufmann. „Die Priester“, antwortete Korr und betonte, heute würde er anders mit derartigen Hinweisen auf mögliche sexuelle Übergriffe umgehen. Früher habe er die Lage falsch eingeschätzt und sich „das alles“ nicht vorstellen können. Heute wisse man jedoch, „was so alles möglich ist“.

Ein weiterer Zeuge war der heutige Hamburger Erzbischof und frühere Kölner Personalchef Stefan Heße. Der 55-Jährige hatte 2010 und 2011 mit U. zu tun, als eine erste Anzeige wegen Missbrauchs gegen den Geistlichen vorlag. Das Erzbistum beurlaubte U. zeitweise, setzte ihn dann aber wieder als Krankenhauspfarrer ein, nachdem die Anzeige zurückgezogen wurde. Während der Beurlaubung telefonierte Heße mit U. und erkundigte sich nach seinem Befinden. Er wollte wissen, ob U. seelischen Beistand brauche. „Ich war in dieser Gemengelage einerseits dazu angehalten, eine klare Linie zu fahren und andererseits als Mitbruder auch ein bisschen Nähe zu zeigen“, sagte Heße. „Das ist ein Spagat, der gar nicht zu leisten ist.“

Offenbar fühlte sich letztlich niemand wirklich zuständig

Nachdem die Anzeige zurückgezogen und die Beurlaubung vom Tisch war, beteiligte sich das Erzbistum an U.s Anwaltskosten. Gegenüber Heße erklärte der Geistliche zudem freimütig, er habe sich ohnehin nicht an die Auflagen der Beurlaubung gehalten. Ein Regelbruch, auf den keine Konsequenzen folgten. „Ich hätte dem ein Ende bereiten müssen“, sagte der heutige Hamburger Erzbischof hörbar erschüttert vor Gericht. Im Prozess wurde deutlich, dass U. sogar während seiner Beurlaubung Missbrauchstaten begangen haben soll.

Ein weiteres Problem im System: Offenbar fühlte sich letztlich niemand wirklich zuständig. Die Entscheidungsträger verließen sich wohl auf die Einschätzungen des damaligen Kirchenrichters Günter Assenmacher, wie aus einem Aufarbeitungsgutachten hervorgeht. Der 69-Jährige sagte ebenfalls vor Gericht aus und wurde nicht müde zu betonen, er habe in der ganzen Angelegenheit nur eine beratende Rolle gehabt. Es sei nicht seine Aufgabe gewesen, weiterführende Recherchen anzustellen. Nicht einmal in U.s Personalakte habe er geblickt. Dabei hätte das Erzbistum laut Richter Kaufmann mit wenig Engagement sehr viel über den Geistlichen erfahren können – dass zum Beispiel „reihenweise“ Mädchen in seinem Haus in Gummersbach übernachteten.

Hätten klar benannte Zuständigkeiten daran etwas geändert? Wäre Heße anders mit U. umgegangen, wenn er ihn nicht auch als Mitbruder hätte sehen müssen, für dessen Wohlergehen er verantwortlich war? Hätte Korr noch einmal nachgehakt, wenn ihm das Argument „Die wollen uns was anhängen“ vollkommen abseitig erschienen wäre?

„Wir Priester waren am Anfang verblendet“

„Wir Priester waren am Anfang verblendet“, räumte Korr vor Gericht selbstkritisch ein. Heute, als Neusser Kreisdechant, würde er Hinweise sofort an das Bistum melden und darauf achten, dass Auflagen eingehalten werden. Auch Heße betonte, dass sich in den Diözesen mittlerweile viel getan habe. In Köln habe er sich etwa für die Einführung von Präventionsschulungen eingesetzt. „Die Kirche lernt da viel und macht auch viel.“

Von Anita Hirschbeck (KNA)