Aus dem Chaos geboren

Lange halten konnte sich das Riesenreich nicht. Aber die Sowjetunion drückte der Geschichte des 20. Jahrhunderts ihren Stempel auf.
Aus dem Chaos geboren

Prof. Martin Aust – Foto: Barbara Frommann/Uni Bonn

Das Grauen hatte für die Menschen im gerade untergegangen russischen Zarenreich viele Gesichter. Zwar war der Erste Weltkrieg 1918 beendet. Aber die Fronten im Innern des Landes blieben in den kommenden drei Jahren ungeklärt. Es kämpften „rote“ Bolschewiki gegen „weiße“ Nationalisten, Polen und Ukrainer strebten nach Unabhängigkeit, dazu zogen marodierende Truppen wie die der Tschechoslowakischen Legion durch das Land.

Zehn Millionen Menschen sollen bis 1921 gestorben sein – viele von ihnen durch Hungersnöte und Krankheiten. Besonders litten die Juden. Der Bürgerkrieg übertraf laut dem Bonner Historiker Martin Aust „alle Schrecknisse, die bereits die Pogrome im Zarenreich seit 1881 wiederkehrend über sie gebracht hatten“. Dass sich schließlich Lenin und seine Bolschewiki in diesem Chaos durchsetzten, lag letztlich an der Schwäche und Zerrissenheit ihrer Gegner.

Die Gründung der Sowjetunion vor 100 Jahren, am 30. Dezember 1922, beschreibt Aust als einen „rein formalen Akt“. Die eigentliche Herausforderung für Lenin und seine Gefolgsleute lag in den Folgejahren darin, die eigene Macht zu konsolidieren. Zunächst verfuhr man nach dem Muster Zuckerbrot und Peitsche, kam etwa nichtrussischen Bewegungen an den Rändern des Territoriums entgegen, und ließ mit der Neuen Ökonomischen Politik in engen Grenzen privatwirtschaftliche Tätigkeiten zu, wie Aust festhält. Zugleich hielten die Bolschewiki am Konzept des Roten Terrors fest, der rücksichtslosen Verfolgung Andersdenkender.

Unter Lenins Nachfolger Stalin blieb spätestens ab 1927/28 nur noch die Peitsche übrig, so Aust. „Der Führerkult um seine Person, die Kollektivierung der Landwirtschaft, eine zentral gelenkte und in Fünfjahresplänen operierende Wirtschaft sowie rücksichtsloser Terror gegen imaginierte Feinde und Saboteure prägten das Schicksal der Menschen.“ Außenpolitisch bereitete der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1939 zwischen Stalin und Adolf Hitler den Weg in den Zweiten Weltkrieg.

Für die leidgeprüften Menschen in der Sowjetunion brachte dieser Große Vaterländische Krieg neue Dimensionen des Schreckens. Am Ende jedoch war Nazi-Deutschland unter ungeheuren Opfern niedergerungen. Und die Sowjetunionstand neben den USA als „Supermacht“ da. Aus dem heißen wurde der Kalte Krieg: zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen Warschauer Pakt und Nato. Der Eiserne Vorhang mit seinen schwer befestigten Grenzanlagen teilte Europa in Ost und West.

Mehrfach drohte die Situation zu kippen – in der Kubakrise stand die Welt 1962 gar am Abgrund eines Atomkrieges. Militärisch konnte die Sowjetunion, mit 22 Millionen Quadratkilometern Fläche das größte Land der Erde, lange mithalten. Doch wirtschaftlich sank ihr Stern nach und nach. Als Michail Gorbatschow 1985 der starke Mann im Staat wurde, häuften sich die Krisen: die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, Unabhängigkeitsbestrebungen im Baltikum und im Kaukasus, Massenstreiks von Bergarbeitern, dazu die Dauerkonflikte zwischen kommunistischen Betonköpfen und Reformern im Kreml.

Das formale Ende verlief ähnlich unspektakulär wie der Beginn. Ende 1991 hörte die Sowjetunion auf zu existieren. Am Abend des 25. Dezember trat Gorbatschow als Präsident zurück. Die Flagge mit Hammer und Sichel wurde über dem Kreml eingeholt; an ihre Stelle trat die russische Fahne.

Russlands Präsident Wladimir Putin, der den Untergang der Sowjetunion einmal als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete, knüpft nach dem Urteil von Osteuropa-Experte Aust auf unterschiedliche Weise an die Vergangenheit an. „Als 1991 die Sowjetunion zerfiel, fanden sich die in den 14 nichtrussischen Nachfolgestaaten lebenden Russen gleichsam über Nacht in einem anderen Land wieder“, fasst Aust die dahinter stehende Botschaft Putins zusammen. Tatsächlich denke dieser jedoch „in den Kategorien des alten Zarenreichs“. Nach dieser Lesart sei es ein Fehler, „dass man nach dem Ersten Weltkrieg an den Rändern des ehemaligen Reichs die Bildung von Nationen zugelassen habe“. Was bleibt sind Krieg und Gewalt, nicht nur in der Ukraine.

Joachim Heinz (kna)