„Gesehen“ haben ihn schon immer alle auf den Gemälden Carl Spitzwegs (1808-1885), aber „entdeckt“ hat ihn erst Andrea Fromm: den roten Schirm.

Ausschnitt aus: Carl Spitzweg: Der ewige Hochzeiter, um 1858, Öl auf Leinwand, Grohmann Museum, Milwaukee. Auch in diesem Bild ist ein roter Schirm zu sehen – hochgehalten von der Brunnenfigur im Hintergrund. –Foto: Thiede
Schweinfurt – „Gesehen“ haben ihn schon immer alle auf den Gemälden Carl Spitzwegs (1808-1885), aber „entdeckt“ hat ihn erst Andrea Fromm: den roten Schirm. Er führt beim „Kaktusliebhaber“ (um 1850) ein Schattendasein links vorn, liegt vor dem „Naturforscher“ (um 1880) in einer Tropfsteinhöhle oder wird im Hintergrund des Gemäldes „Der ewige Hochzeiter“ (um 1858/60) von einer Brunnenfigur hochgehalten. Der rote Schirm tritt zumeist so beiläufig auf, dass ihn die Kunsthistoriker bislang bei ihren Bildbeschreibungen übergangen haben. Nicht aber ihre Kollegin Fromm. Sie hat über 60 Gemälde Spitzwegs ermittelt, die einen roten Schirm aufweisen. Viele sind in der Sonderausstellung des Schweinfurter Museums Georg Schäfer zu sehen.
Nicht auf allen der ausgestellten 100 Gemälde und Grafiken tritt ein roter Schirm auf. Er fehlt etwa auf dem Gemälde des „Witwers“ (um 1844), der den schwarzen Scherenschnitt seiner Verblichenen sinken lässt, um zwei hübschen jungen Damen nachzublicken. Denn über den roten Schirm hinaus will die Ausstellung nach den Worten Fromms zeigen, dass Spitzwegs „Malerei bis ins hohe Alter Spiegel einer durchgängigen und facettenreichen Beschäftigung mit dem Thema der Liebe bleibt“.
Der aus einer wohlhabenden Münchener Kaufmannsfamilie stammende Maler blieb zeitlebens unverheiratet. Anfang der 1840er-Jahre hätte er das gern geändert. Aber seine große Liebe, die mit einem Handwerker verheiratete Clara Lechner, starb vor der Scheidung von ihrem Ehemann. Um des Familienfriedens willen ließ Spitzweg von seiner zweiten großen Liebe ab, denn Angelika war mit seinem Bruder Eduard verheiratet. Laut seines Biografen Hermann Uhde-Bernays tröstete sich Spitzweg über diese Schicksalsschläge mit zahlreichen „Amouren und Amürchen“ hinweg.
Um des Familienfriedens willen
Was berichtet Ausstellungskuratorin Fromm über den roten Schirm? Ein echtes rotes Exemplar, datiert auf „um 1850“, liegt zum Auftakt des Rundgangs in einer Vitrine und wird als „Schirm eines Hochzeitladers“ deklariert. Hochzeitslader haben die Aufgabe, von Tür zu Tür zu gehen, um die Gäste einzuladen. Normalerweise führen sie einen Stock mit sich, an dem bunten Bänder hängen. Statt des Stocks waren laut Fromm die oberschwäbischen Hochzeitslader mit einem roten Schirm ausgerüstet. Der weise sexuelle Anspielungen auf: der Schirm symbolisiere einen Phallus, die rote Farbe Entjungferung. Es ist allerdings fraglich, ob Spitzweg jemals einem oberschwäbischen Hochzeitslader begegnet ist.
Tatsache aber ist, dass der unbehelligt von materiellen Sorgen malende Spitzweg von 1835 bis 1880 wiederholt einen roten Schirm ins Bild setzte. Besonders auffällig, weil aufgespannt, tritt er in der Vorstudie zu Spitzwegs wohl berühmtester Bilderfindung in Erscheinung. Im Gegensatz zu den nachfolgenden Fassungen liegt „Der arme Poet“ am helllichten Tag in seiner Dachstube nicht unter einem schwarzen oder grünen Schirm reimend auf der Matratze, sondern unter einem ramponierten roten Regenschirm. Diese um 1837 geschaffenen Vorstudie ist aus Milwaukee angereist – und allein schon den Ausstellungsbesuch wert. In der Schau sind alle anderen roten Schirme geschlossen.
Leihgabe des Salzburg Museums ist das populäre Gemälde „Der Sonntagsspaziergang“ (1841). Vornweg marschiert der Patriarch. Es ist heiß. Er hat seinen Sonntagsstaat gelockert und den Zylinder als Sonnenschutz über den empor gehaltenen Spazierstock gestülpt. Auf dem Weg durch die Getreidefelder folgen ihm Frau und Töchter mit aufgespannten Sonnenschirmchen. Im Besitz des Museums Georg Schäfer befindet sich eine spätere Version des Motivs: „Sonntagsspaziergang“ (um 1861). Auf dem laufen Mann und Frau nebeneinander her. Er trägt einen roten Schirm, „dessen Spitze“ nach Auffassung Andrea Fromms „in Richtung eines alten, in die Erde eingesunkenen Grabsteins weist. Die Aussage über die bürgerliche Ehe, die Spitzweg auf diese Weise als das Ende der Liebe und Leidenschaft definiert, könnte nicht dramatischer ausfallen.“ Eher trifft wohl zu, dass es sich um einen banalen Grenzstein handelt.
Satirischer Seitenhieb auf ein Tabuthema
In Spitzwegs Bildwelt werden selbst Eremiten und Mönche vom Liebensbegehren übermannt. „Der verliebte Einsiedler“ (um 1875) hat sich in den Alpen gemütlich eingerichtet. Auf seiner Terrasse hat eine junge Besucherin ihren Korb abgestellt und den roten Schirm dagegen gelehnt. Weiter hinten bedrängt der Einsiedler die Frau. Doch die wehrt ihn ab. In diesem Fall scheint der rote Schirm tatsächlich eine sexuelle Symbolik zu haben: Entsprechend der Abfuhr, die der Einsiedler erhält, ist die Schirmspitze abwärts gerichtet.
Wiederholt bekommt man jedoch den Eindruck, dass Andrea Fromm zu viel Sex in die äußerst ansprechenden Bilder hineininterpretiert. Auf dem Gemälde „Die päpstliche Zollwache“ (um 1855) schnüffelt ein Beamter im Gepäck eines Mönches herum, dem ein roter Schirm gehört. Fromm sieht darin „einen satirischen Seitenhieb auf das Tabuthema ,Zölibat und Liebe‘“. Auf einem anderen Gemälde steigt eine Sennerin, die einen roten Schirm dabei hat, zielstrebig über einen Zaun. Was will sie von dem Mönch, der sie, aus seiner Lektüre aufgeschreckt, unwillig über die Schulter anblickt? Fromm glaubt: „In ,Sennerin und Mönch‘ (1838) will ein Paar ,verbotene‘ Hochzeit halten.“ Im Bild „Vor der Waldkapelle“ (um 1875) sehen wir die Silhouette einer betenden Frau. Hinter ihr steht im Sonnenlicht ein Korb, gegen den ein roter Schirm lehnt. Links vorn plätschert ein Brunnen. Fromm deutet das fromme Idyll zur frivolen Anspielung um: „Im Vordergrund ergießt sich ein straffer Wasserstrahl in ein Brunnenbecken, das sich als eindeutige Symbolik erweist.“ Der renommierte Spitzweg-Forscher Siegfried Wichmann hingegen urteilt über dieses mehrfach aufgegriffene Bildthema: „Das betende Mädchen in Spitzwegs Bildern ist der Inbegriff religiöser Ergriffenheit.“
Veit-Mario Thiede
Weitere Info auf www.museumgeorgschaefer.de