„Ich bin ernüchtert“

Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Josef Neumann, kritisiert den aus seiner Sicht mangelhaften Stand der Aufarbeitung von Verdachtsfällen von Medikamentenversuchen an Kindern in Einrichtungen der Jugend- und Behindertenhilfe. „Ich habe den Eindruck, dass die Angelegenheit über die Landtagswahl beim NRW-Gesundheitsministerium in Vergessenheit geraten ist“, sagte Neumann dem Neuen Ruhr-Wort. „Es ist sehr ernüchternd, dass da offenbar fast ein Jahr nichts geschehen ist.“ Dabei habe sich der Gesundheitsausschuss nach Bekanntwerden der Versuche im Oktober 2016 seinerzeit „einmütig und damit unabhängig von Parteigrenzen“ für eine Aufarbeitung ausgesprochen.

Josef Neumann (Foto: Jens Grossmann)

Die Krefelder Pharmazeutin Sylvia Wagner hatte im Oktober 2016 aufgedeckt, dass es zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren mindestens 50 Medikamentenversuchsreihen in deutschen Kinderheimen gab. Hierbei soll es vor allem um die Erprobung von Psychopharmaka und Impfstoffen gegangen sein. In mindestens einem Fall gibt es offenbar Hinweise, dass ein Neuroleptikum auf ausdrücklichen Wunsch der Jugendhilfe eingesetzt wurde, um Kinder ruhiger und lernfähiger zu machen. Der Fall in Düsseldorf-Düsselthal hatte vor einigen Jahren bereits die Bundesregierung beschäftigt. Konkrete Vorwürfe beziehen sich auch auf das katholische Kinderheim Franz-Sales-Haus in Essen, die Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld-Bethel und die Rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Viersen-Süchteln (wir berichteten).

Auf Einladung und unter Moderation der damaligen Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Die Grünen) hatte es im November 2016 ein erstes Treffen mit Vertretern der vier bisher namentlich bekannten Einrichtungen in NRW, der Landschaftsverbände und der jeweils für unterschiedliche Bereiche zuständigen Ministerien gegeben. „Alle Beteiligten waren sich darüber einig, dass eine umfassende fundierte wissenschaftlich-historische Aufarbeitung erforderlich ist“, hatte seinerzeit Nalan Öztürk als stellvertretende Pressesprecherin des Ministeriums gegenüber dem Neuen Ruhr-Wort erklärt. Hierzu sei ein enger Austausch und eine enge Kooperation vereinbart worden. In einem nächsten Schritt sollte nun zusammengetragen werden, welche Studien zum Themenkomplex Heimerziehung und Medikamente bereits existieren, derzeit in Arbeit oder bereits beauftragt sind. „Das Land wird sich dabei vor allem mit den historischen und rechtlichen Fragen befassen, die Träger mit den konkreten Ereignissen“, kündigte die Sprecherin schließlich an.

Ministerin Steffens hatte Anfang 2017 eine Vorstudie an der Uni Münster in Auftrag gegeben, die auch vorliegt. Auf ihrer Grundlage sollte im Frühjahr 2017 „die eigentliche große Studie vergeben werden“. Hier ergebe sich eine gewisse Parallelität zur unabhängigen Untersuchung der Rolle des Landes im Contergan-Skandal. „In einem parallelen Prozess“ sollten die Untersuchungen, die vier von Wagner benannten Einrichtungen selbst vornehmen beziehungsweise beauftragen wollten, „miteinander in einer Weise koordiniert werden, dass diese später vom Untersuchungsgegenstand, der Herangehensweise, dem Aufbau und der Struktur miteinander vergleichbar sind“. Zuletzt gab es im vergangenen Jahr im Mai 2017 ein Treffen mit den Einrichtungen.

Anfang April hatte das Gesundheitsministerium erst auf Antrag der SPD einen Sachstandsbericht gegeben. Von einer eigenen Studie des Ministeriums war nun nicht mehr die Rede. Hierdurch fühlt sich Josef Neumann indes nur unzureichend informiert. „Ich hätte erwartet, dass das Ministerium proaktiv vorgeht. Das ist kein Thema, das auf die lange Bank geschoben werden darf. Das sind wir den Opfern schuldig“, kritisierte Neumann. „Ich gehe fest davon aus, dass das Ministerium uns künftig wieder von sich aus auf dem Laufenden halten wird“, sagte Neumann, um dann anzufügen: „Ich werde das Thema nicht aus den Augen verlieren.“