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Eine neue Welle an Enthüllungen über sexuellen Missbrauch trifft die Katholische Kirche derzeit mit voller Wucht. Chile, Honduras, Australien, Irland sind die aktuellen Brennpunkte – und in dieser Woche hat sich bestätigt, dass das Ausmaß des Missbrauchsskandals in der US-Kirche weitaus größer ist als
zuvor bereits befürchtet.
Die Vertuschungsvorwürfe reichen auch dieses Mal bis in den Vatikan Bei all dem zeigt sich: auch rund 20 Jahre nach den ersten massiven Aufdeckungen und trotz aller Kommissionen, Präventionsrichtlinien und Vergebungsbitten hat die Kirche noch immer Defizite im Umgang mit dem Skandal. Dabei steht nicht weniger auf dem Spiel als ihre Glaubwürdigkeit, ihr Kern – und ihre Zukunft.
Mehr als 300 Priester, die in einem am Montag veröffentlichten 900-seitigen Untersuchungsbericht namentlich genannt werden, haben in einem Zeitraum über sieben Jahrzehnte mindestens 1000 Kinder sexuell missbraucht. Viele hatten noch nicht das Alter der Pubertät erreicht. Berichtet wird von Vergewaltigungen, Schwangerschaften und Abtreibung.
Die Dunkelziffer liege auf Seiten von Opfern und Tätern vermutlich höher, mussten die Bischöfe der sechs betroffenen Diözesen im US-Bundesstaat Pennsylvania einräumen. Sie rechnen mit Tausenden Opfern, von denen viele nicht oder noch nicht die Kraft hatten, sich zu melden. Rechtlich gelten viele Taten ohnehin als verjährt. Deutlich wird derzeit jedenfalls: Auch als die Aufklärungs- und Präventionsarbeit in der Katholischen Kirche bereits auf Hochtouren lief und durchaus Fortschritte machte, kam es noch zu Missbrauch.
„Alles versteckt“
Im Zuge der Offenlegung zeigt sich einmal mehr: das System der Vertuschung funktionierte über eine viel zu lange Zeit perfekt in der Kirche. Und es reichte und reicht bis in die höchsten Kirchenkreise – zu Bischöfen, Erzbischöfen und bis in den Vatikan. „Priester haben kleine Jungen und Mädchen vergewaltigt und die Männer Gottes, die für sie verantwortlich gewesen wären, haben nicht nur nichts getan – sie haben alles versteckt“, kritisiert der Bericht. „Die Kirche hat ihre Institutionen geschützt – kostete es, was es wolle.“ Um Schaden von der Kirche abzuwenden und auch zum Schutz von Tätern wurden viele Fälle vertuscht – und sind auch deshalb heute juristisch verjährt. Nun werden einmal mehr die Rufe lauter, die eine Laisierung von Tätern im Priesterrock fordern.
Zwar bescheinigt der Untersuchungsbericht aus den USA der Kirche auch echte Fortschritte im Kampf gegen den Missbrauch. Und viele der Pennsylvania-Bischöfe reagieren gerade vorbildlich mit Informationen an die Gläubigen, mit Krisenkommunikation und Vergebungsbitten gegenüber den Opfern.
Gleichwohl offenbart der Skandal eben auch die gefährlichen Schwachstellen der Institution. In Zeiten, in denen auch der Vatikan die Sozialen Medien bespielt und „in Echtzeit“ reagieren könnte, hüllte er sich bezüglich des Missbrauchs und der Vertuschungsvorwürfe bis Redaktionsschluss in Schweigen. Das sollte und kann sich eine Institution, die sich als eine oberste moralische Instanz versteht, nicht erlauben.
Die Kirche unterschätzt weiterhin, dass sie um jedes heutige und künftige Mitglied mehr denn je ringen muss. Und dass es für ihre Glaubwürdigkeit und Zukunftsfähigkeit essentiell und existenziell wichtig ist, sich gerade bei diesem zutiefst emotionalen und erschütternden Thema keine Bedenkzeiten, Verzögerungen und weiteren Vertuschungen zu leisten. Mindestens ein Signal der Solidarität mit den Opfern und das Versprechen, die Aufklärung und Prävention weiter voranzutreiben, hätten notgetan am Montag.
Hildegard Mathies
Debatte um Kirche in USA nach Missbrauchsskandal
In den USA sorgt der jüngste Missbrauchsskandal für eine Debatte um die Strukturen in der katholischen Kirche. Rund 140 Theologen und Laien forderten die Bischöfe des Landes in einer Erklärung auf, dem Papst geschlossen ihren Rücktritt anzubieten. Das Versagen im Umgang mit dem Missbrauch durch Priester erfordere einen kollektiven Amtsverzicht „als öffentlichen Akt der Reue und des Bedauerns vor Gott und dem Volk Gottes“.
Als Vorbild verweisen die Unterzeichner auf Chile, wo im Mai fast der gesamte Episkopat wegen eines ähnlich weit reichenden Skandals den Rücktritt angeboten hatte. „Systemische Sünde“ könne nicht durch individuellen guten Willen beendet werden, so die auf Englisch und Spanisch verfasste Erklärung. „Die von ihr verursachten Wunden werden nicht geheilt durch Erklärungen, interne Untersuchungen oder PR-Kampagnen, sondern eher durch kollektive Verantwortlichkeit, Transparenz und das Aussprechen der Wahrheit.“
John Bambrick, katholischer Priester und selbst Missbrauchsopfer, warf den Kirchenoberen „hohle Entschuldigungen“ und „fromme Plattitüden“ vor. Im „Time“-Magazin plädiert er dafür, bei der Wahl von Bischöfen die Laien in den jeweiligen Bistümern zu beteiligen. Statt wahrer Seelsorger gelangten zu oft Bürokraten und Funktionäre ins Bischofsamt.
Der kirchliche Kinderschutzexperte Hans Zollner betonte in Interviews mit der italienischen Zeitung „La Stampa“ und dem Portal VaticanNews, gegen den Missbrauch Minderjähriger brauche es nicht nur Gesetze, sondern auch einen Mentalitätswandel in der Kirche. Zu lange habe es „eine Kultur der Vertuschung, der Negierung und des Schweigens“ gegeben, so der deutsche Jesuit, der das Kinderschutzzentrum an der Päpstlichen Universität Gregoriana leitet. Der jüngste Bericht aus den USA zeige auch, dass seit Einführung präziser Verfahrensregeln durch die Bischöfe im Jahr 2002 die Zahl der Fälle drastisch gesunken sei.
Dublins Erzbischof Diarmuid Martin erwartet von Papst Franziskus bei dessen Irlandbesuch klare Worte zu den Skandalen. Der Papst müsse „offen über unsere Vergangenheit, aber auch über unsere Zukunft sprechen“, sagte Martin am Sonntag bei einem Gottesdienst in Dublin. Dort wird Franziskus am kommenden Wochenende beim Weltfamilientreffen erwartet. Die Zahl aller Opfer sei „immens“, so Martin. Immer noch kenne man nur die Identität einiger. Es gebe viel Zorn über eine Kirche, die autoritär, hart und selbstschützend gehandelt habe.
Unterdessen hat der Washingtoner Erzbischof Donald Wuerl laut irischen Medienberichten seine Teilnahme am Weltfamilientreffen in Dublin abgesagt. Über die Gründe wurde bisher nichts bekannt. Laut Programm sollte er eine Rede über das Wohlergehen der Familie halten. Vor seiner Ernennung zum Erzbischof der US-Hauptstadt war Wuerl 18 Jahre lang Bischof der Diözese Pittsburgh. In dem am Dienstag veröffentlichten Bericht des Generalstaatsanwalts von Pennsylvania über Missbrauchsfälle und deren Vertuschung wird sein Name oft genannt.
Der Bericht der staatlichen Jury zum Missbrauch in sechs Bistümern des US-Bundesstaats erschüttert die USA. Der Report beschuldigt rund 300 zumeist verstorbene Priester, in den vergangenen 70 Jahren mindestens 1.000 Kinder und Jugendliche missbraucht zu haben.