In besonderer Weise berührt

Das „Beiern“ in St. Lambertus gehört seit Jahrzehnten beim Annenfest dazu

Sekundenlang schwingt der Ton nach und ist nicht nur zu hören, sondern im ganzen Körper zu spüren. Ohne Gehörschutz ließe es sich direkt neben den Glocken vermutlich nicht lange aushalten. Bereits der Aufstieg in den Turm der St.-Lambertus-Kirche hatte es in sich. Nur über lange Holzleitern ist der mitunter recht staubige und von Spinnweben begleitete Weg in die Kirchturmspitze zu bewältigen. Nichts für Menschen mit Höhenangst. Oben angekommen gilt es, gut auf seinen Kopf aufzupassen, um sich nicht an den vielen Holzbalken zu stoßen und einen sicheren Platz zum Zuhören zu finden.
Das Klangerlebnis, das an diesem Tag nicht nur den Rellinghausern, sondern auch einer kleinen Zahl an Zuhörern unmittelbar im Turm zuteil wird, gibt es traditionell nur zum Annenfest von St. Lambertus. Einmal im Jahr ist an den Tagen rund um die über 500 Jahre alte Feier das sogenannte Beiern zu hören. Dabei handelt es sich um einen jahrhundertealten Brauch, der vor allem im Nordwesten Europas Verbreitung fand, vielerorts vergessen und in den vergangenen Jahren wiederentdeckt wurde. In Rellinghausen gehörte er schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg dazu. In Essen und Umgebung ist er eine echte Besonderheit.
Beim Beiern werden die Kirchenglocken über eine spezielle Seiltechnik mit Hand und Fuß angeschlagen. Im Gegensatz zum herkömmlichen Läuten können sie dabei nicht frei schwingen, sondern werden stattdessen festgesetzt. Und das ist richtige Schwerstarbeit. Nicht nur, weil es an diesem Tag über 30 Grad warm ist und sich die Hitze im Turm noch zusätzlich staut. Die Glocken haben ein extremes Eigengewicht und müssen erst einmal bewegt werden. Die schwerste der Vier, die im Jahr 1990 dazugekommene Mathildenglocke, wiegt stattliche zwei Tonnen, die kleinste, die Glocke mit dem Namen Maria, immerhin noch 550 Kilogramm.

Aufgabe vor zehn Jahren vom Vater übernommen

Doch die drei Glöckner, wie sie sich nennen, können schließlich auf eine jahrelange Erfahrung in Sachen Beiern zurückblicken. Nicht länger als eine halbe Stunde brauchen sie, um das Geläut festzustellen und sich auf das Spielen des Marienliedes „Ros’, o schöne Ros’“ vorzubereiten. Wolfgang Bluhm hatte die Aufgabe vor etwa zehn Jahren von seinem Vater Alfred übernommen. „Er hört sich das jetzt vermutlich zu Hause im Sessel an“, lacht Wolfgang Bluhm. Denn der Vater wohne unweit der St.-Lambertus-Kirche. Nach einiger Zeit stießen dann auch Ludger Linden und Hermann Schreiner dazu. Alle drei sind „alte Rellinghauser“, auch wenn nur noch zwei von ihnen dort wohnen. Mit dem Stadtteil und dem Annenfest fühlen sie sich eng verbunden. „Wenn wir das nicht weitergemacht hätten, gäbe es das Beiern beim Annenlfest nicht mehr“, betont Ludger Linden, der an diesem Tag auch von Sohn Julius unterstützt wird. Vielleicht tritt der Teenager eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters. Doch die drei Glöckner – zwei stehen kurz vor ihrem 50. Geburtstag, einer hat ihn bereits hinter sich gelassen – möchten noch lange nicht aufhören. „Es ist schon ein ungewöhnliches Hobby“, betont Linden. Denn das Beiern gebe es längst nicht überall.

Eine gewisse Musikalität ist vonnöten

Zwar keine ausgeprägten Vorkenntnisse, aber eine gewisse Musikalität sei dafür schon vonnöten, finden sie, auch wenn „man eigentlich nur wissen muss, wann man oben ziehen und unten treten muss“, erklärt Wolfgang Bluhm. Manchmal ginge auch ein Ton daneben. Denn das Beiern sei kaum zu üben. Gelegenheiten, die Glo­cken zu spielen, gebe es im Prinzip nur an den Tagen des Annenfestes. Letztendlich sei die Melodie des Liedes aber einfach – eine Klangfolge aus vier Tönen eben. Doch „jeder von uns spielt anders und in seinem eigenen Rhythmus“, sagt Bluhm.
Abwechselnd nehmen die Glöckner auf dem „Beierstuhl“ im Glockenturm Platz. Nicht nur das Festsetzen der Glocken, auch das Spielen, das Ziehen und Treten der Stahlseile, sei kräftezehrend, die Klöppel der Glocken relativ träge. Einer allein könne kaum eine halbe Stunde durchspielen. Vor allem das Anschlagen mit den Füßen sei schwierig. „Man braucht schon ein gewisses Eigengewicht“, erläutert Wolfgang Bluhm darüber hinaus – auch wenn alle Drei erkennbar schlank sind. Und als sie dann, ausgerüstet mit festen Arbeitsstiefeln und dicken Handschuhen, das Marienlied erklingen lassen, ist ihnen sowohl ihre Konzentration, als auch die Anstrengung deutlich anzumerken.
Doch das ist es ihnen wert. Und wie zur Belohnung werden sie im Anschluss vor der Kirche von einer kleinen „Fan-Gemeinde“ mit großem Lob und kühlen Getränken erwartet. „Es bewegt einen schon“, meint Ludger Linden, auch wenn er das Lied viele Mal hintereinander gespielt hat und in den kommenden Tagen noch spielen wird. Zum 500. Jubiläum des Annenfestes habe es sogar eine „Live-Übertragung“ aus dem Glockenturm in das Festzelt hinein gegeben. Nicht zuletzt in der Festschrift zum Jubiläum heißt es dazu, das Beiern sei „eine Rellinghauser Eigenart, die jeden auf eine ganz besondere Weise berührt“.
Ulrike Beckmann