Die ganze Stadt ist derzeit wieder auf den Beinen. Zum 50. Mal im Advent sammelnin Hattingen alte und junge Katholiken und Protestanten bei einer Reihe Veranstaltungen Geld für den Verein „Aktion 100.000.“ Er entstand 1970 aus einer ökumenischen Bibelgruppe für Jugendliche. Erklärtes Ziel: Menschen in aller Welt zu helfen und Ungleichheit zu bekämpfen.
„Für unsere Familie ist der Advent die Aktionszeit“, sagt Thomas Haep. Der 63-Jährige hat in den vergangenen Tagen viel organisiert, allem voran den jährlichen Hungermarsch. Die nunmehr 38. Auflage des 20-Kilometer-Wohltätigkeitslaufes war am Sonntag an der Hattinger St.-Georgs-Kirche gestartet. Zwischen Weihnachtsbuden und Glühweinständen schnürten 124 Teilnehmer ihre Sport- und Wanderschuhe. Sie trotzten strömendem Regen und steifen Windböen.
Zum 50. Aktionsjahr unterstützen die Hattinger das Misereor-Projekt „Das Dorf macht Schule – Die Schule macht das Dorf.“ Die Spenden kommen Schülern auf Madagaskar zugute. „Rund ein Drittel der Bevölkerung dort kann nicht lesen oder schreiben und nur zwei von drei Kindern werden eingeschult“, weiß Haep. Im Nachteil seien vor allem Kinder in abgelegenen Hochlanddörfern. „Vozama“, die Misereor-Partnerorganisation vor Ort, richtet Schulen ein und bildet Lehrer aus. „So lernen die Menschen, sich selbst zu helfen.“
In all den Jahren wurden ausgewählte Projekte der beiden kirchlichen Hilfswerke „Brot für die Welt“ und „Misereor“ gefördert. Im Gründungsjahr 1970 finanzierte man ein Geländefahrzeug für ein Siedlungsvorhaben in Fachinal (Argentinien) und den Aufbau einer Landwirtschaftsschule in Teófilo (Brasilien) mit. Manche Projekte lagen den Hattinger Helfern so am Herzen, dass sie gleich zwei Jahre dafür beim Hungermarsch, Konzerten oder dem Verkauf von Brot und Erbsensuppe sammelten, wie für die Kleinfischer in Ceará (Brasilien) in den Jahren 1990 und 1991. Ein Spenden-Doppeljahr gab es auch 1992/93 als Hilfe zur Selbsthilfe für Straßenkinder in Medellin (Kolumbien) und 2004/05, als man für die Befreiung von Kinder-Sklaven in der indischen Teppichindustrie Gelder akquirierte. Immer bestand über die großen Hilfsorganisationen Kontakt mit den Bedürftigen vor Ort. „So können wir nachweisen, wie die Spenden verwendet werden.“ 1994 entschied sich die Gruppe, einen Verein zu gründen.
Das unermüdliche Engagement der „Aktion 100.000“ lobte jetzt der aus Aachen angereiste Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel. In der evangelischen St. Georgs-Kirche predigte der katholische Geistliche im Gottesdienst vor dem Start des Hungermarsches. Spiegel selbst war ein Jahrzehnt Entwicklungshelfer in Brasilien und hat dort Armut, Hunger und soziale Ungerechtigkeit erlebt.
Strukturen ändern für Gerechtigkeit
In seiner Ansprache zitierte er aus Psalm 146 den Vers „Er verschafft den Unterdrückten Recht und gibt den Hungrigen Brot“ und appellierte an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Sie seien, „in einem größeren Zusammenhang betrachtet, eine christliche Grundhaltung.“ Doch es genüge nicht, barmherzig zu sein und etwa jedem Bettler Geld zu schenken. Vielmehr müsse man Strukturen ändern, die für Ungleichheit auf der Welt sorgen, forderte er weiter.
Gleich nach dem Segen begaben sich die Läufer an den Start, um maximal 20 Kilometer zu absolvieren. „Es gab fünf Posten auf der Strecke“, erläutert Haep. Die letzte Station war das CVJM-Haus. Und dort hatte vor 49 Jahren alles angefangen, bei einem ökumenischen Bibelgesprächskreis für Jugendliche. Einmal in der Woche kamen in der alten „Emsche“, der damaligen CVJM-Heimat in Hattingen, zwischen 10 und 20 Teenager beider Konfessionen zum Austausch mit Jugendsekretär Karl-Heinrich Knoch und Kaplan Gerd Reinders aus St. Peter und Paul.
Dann entstand der Wunsch, aktive Hilfe zu organisieren und die Welt gerechter zu machen. „Wichtige Impulse setzte Michael Lunemann, ein Hattinger Politiker mit den Erfahrungswerten eines Entwicklungshelfers in Brasilien“, erinnert sich Haep, der als 14-Jähriger über den Religionsunterricht zu der Gruppe stieß. Weil damals täglich auf der Welt 100.000 Menschen wegen Hunger, Krankheit und Unterernährung starben, nannte man das Projekt „Aktion 100.000.“
Durch Altpapier- und Lumpensammlungen wurden erste Spendengelder gesammelt. Schnell fand das traditionelle Erbsensuppenessen einen festen Termin im Aktionskalender: Es wird immer am dritten Advent ausgerichtet, mittlerweile an drei Standorten und mit unterschiedlichen Eintöpfen. Die junge Generation wächst mit dem Hattinger Projekt auf. Das Gymnasium an der Waldstraße gibt ein Benefizkonzert, Kinder und Jugendliche starten beim Hungermarsch, in Kitas werden Aktionsbrote verkauft. Und seit 1980 wählen Schüler die jeweiligen Projekte aus. Dementsprechend optimistisch blickt die „Arbeitsgemeinschaft evangelischer und katholischer Menschen, des CVJM und BDKJ“, wie sich die Vereinsmitglieder offiziell nennen, in die Zukunft.
Zum 38. Mal war der Hungermarsch zentrale Veranstaltung zweier Aktionswochen. Der Einsatz hat sich wieder gelohnt: 24250 Euro haben die 124 Teilnehmer zwischen 8 und 77 Jahren erlaufen. Haep lief die 20-Kilometer-Route als Letzter, war von 11.30 bis 16 Uhr unterwegs. Pirmin Spiegel ging als gutes Vorbild voran und absolvierte die Hälfte. Wegen des starken Regens brachen einige Läufer vorzeitig ab, was die Spenden jedoch nicht schmälerte. Denn bezahlt wurde für die volle Strecke – ganz in Gedanken an eine gerechtere Welt.