Seit Jahrzehnten konnten sich die Nationalislamisten fast ungestört in Deutschland ausbreiten und menschenfeindliche Propaganda betreiben. Nun geraten sie stärker in den Fokus. Wann handelt die Politik?
Berlin – Sie preisen die türkische Herrenrasse und schüren den Hass gegen Andersdenkende – mitten in Deutschland. Die rechtsextremistischen Grauen Wölfe sind zu einer gefährlichen Kraft geworden, die lange übersehen wurde. Das betont eine am Dienstag vorgestellte Studie im Auftrag des American Jewish Committee (AJC) Berlin. Demnach sind hierzulande etwa 18.500 Mitglieder in den Strukturen der Bewegung aktiv, doch die Dunkelziffer könnte weit höher liegen. Die Untersuchung des Düsseldorfer Soziologen Kemal Bozay fordert nun eine gesellschaftliche Debatte über das Phänomen und ein Durchgreifen der Politik bis hin zum Verbot der bundesweit rund 300 Vereine.
Die Ideologie der in den 1960ern gegründeten Nationalislamisten ist die auf türkisch gewendete Mixtur der üblichen rechtsextremen Denkmuster: autoritärer Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, antiwestliche Verschwörungstheorien, Chauvinismus und Homophobie. Sie träumen von einem großtürkisch-islamischen Reich „Turan“, das vom Balkan bis nach China reichen soll und in dem Minderheiten wie Kurden und Armenier, Aleviten und Christen keinen Platz haben. Der graue Wolf, ein Fabelwesen aus der türkischen Mythologie, ist ihr Symbol. Morde an politischen Gegnern und Gewaltaufrufe pflastern ihren Weg. Auch in Deutschland werden sie mit Straftaten in Verbindung gebracht.
Doch die größte Gefahr geht heute von ihrem politischen Einfluss aus. In der Türkei sind die Grauen Wölfe über die ihnen nahestehende MHP an der Regierung beteiligt. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat keine Berührungsängste, im Gegenteil, unter ihm habe die Bewegung auch in Deutschland „Rückenwind“, sagte Bozay bei der digitalen Vorstellung seiner Studie. Er nennt die Grauen Wölfe gar ein „Instrument in Erdogans Werkzeugkasten“. Das Vorgehen gegen die Extremisten muss deshalb aus seiner Sicht „in eine grundsätzlich robustere Außenpolitik gegenüber dem Regime in Ankara eingebettet sein“, die dessen integrationsfeindliche Propaganda unter den 2,8 Millionen Deutschtürken in die Schranken weise.
Auch in der deutschen Parteienlandschaft von der Union bis zu den Grünen versuchen türkische Nationalisten seit Jahren Fuß zu fassen, teils mit Bezug zu den Grauen Wölfen, getreu deren Motto „Werde Deutscher, bleibe Türke“. Der Grüne Cem Özdemir mahnte die Parteien anlässlich der Studie vor Opportunismus und dem Schielen auf zweifelhafte Wählerstimmen. Kandidaten mit radikalem Hintergrund dürften nicht aufgestellt werden. „Es kann nicht sein, dass wir den Rechtsextremismus von Hans bekämpfen und den von Ahmet tolerieren.“
Bereits im November hatten die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen gemeinsam ein Verbot der Grauen Wölfe gefordert, wie es Frankreich inzwischen verhängt hat. In Ministerien sei man davon „nicht begeistert“ gewesen, so Özdemir, weil man dort wegen der Regierungsbeteiligung der MHP diplomatischen Zwist mit Ankara befürchte. Remko Leemhuis, Direktor des AJC Berlin, nannte es „unverständlich“, dass die judenhassenden Grauen Wölfe in Deutschland derart frei agieren könnten. Die Politik habe die Gefahr „sträflich unterschätzt“.
Nun könnte die Studie neuen Schwung in die Verbotsdebatte bringen. Konkret geht es dabei um die von Grauen Wölfen dominierte Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (ATIB), die Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland (ADÜTDF) und den Verband der türkischen Kulturvereine in Europa (ATB). Die vom Verfassungsschutz beobachtete ATIB ist einer der größten Vereine im Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), der im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz als Ansprechpartner der Regierung fungiert.
Damit ist auch die Frage berührt, wie der Staat künftig grundsätzlich mit islamistischen Akteuren umgehen sollte, die letztlich ausländische Interessen vertreten und Integration verhindern wollen. Denn die Grauen Wölfe sind beileibe nicht die einzige problematische Organisation dieser Art, man denke an die türkisch-nationalistische Milli Görüs oder die aus Nahost gesteuerten Muslimbrüder. Erst vor einer Woche hatte die Unionsfraktion dazu ein Positionspapier beschlossen, das scharfe Maßnahmen gegen solche Gruppierungen fordert.
Unterhalb der Verbotsschwelle regt Bozays Studie auch mehr Prävention unter türkischstämmigen Jugendlichen an. Chancengleichheit und mehr gesellschaftliche Teilhabe seien das beste Rezept, um türkisch-nationalistische Radikalisierung zu verhindern und den grauen Rattenfängern den Nachwuchs zu nehmen.