Der frühere Essener Weihbischof Franz Grave ist tot. Als Streiter für die Menschen im Ruhrgebiet sowie als Vorsitzender des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat stand er für Heimatverbundenheit und Weltläufigkeit zugleich.
Essen – Sein weißer Haarschopf hob ihn aus jeder Menschenmenge heraus. Sein melodischer Bariton durchdrang jeden Raum. Unter Menschen fühlte Franz Grave sich wohl. Als „Kind des Ruhrgebiets“ kannte er die Probleme der Region und den Menschenschlag dort genau. Mehr als 60 Jahre war er im Ruhrbistum als Seelsorger tätig, 30 Jahre davon – von 1988 bis 2008 – als Weihbischof, von 1992 bis 2008 als Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Am Samstag ist Franz Grave, der im Pott und im globalen Süden zu Hause war, mit 89 Jahren gestorben.
„Wir trauern um einen echten Freund Lateinamerikas und Adveniats“, erklärte Adveniat-Hauptgeschäftsführer Martin Maier am Samstag. Grave sei den Weg eines „echten Hirten für unsere Region gegangen, kantig und mit einem wahren Herzen für das Ruhrgebiet, für Kohle und Stahl, für die Arbeit, für die kleinen Leute und auch die großen“, würdigte Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck den Verstorbenen. „Er ist einer, der zu einem Markenzeichen für unser Bistum geworden ist“, so Overbeck.
Grave stammte aus einfachen Verhältnissen. 1932 wurde er in eine Essener Handwerkerfamilie geboren. Schon früh stand fest: Er wollte Pfarrer werden. Seelsorge für die Menschen im Ruhrgebiet leisten, erzählte er. 1959 war er einer der ersten Priester, die Ruhrbischof Franz Hengsbach für das ein Jahr zuvor gegründete Bistum weihen konnte. Grave wirkte als Kaplan und Religionslehrer in Duisburg, später als Diözesanpräses für Kolpingwerk und Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB). 1988 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Weihbischof. Die Nachricht über seine Ernennung habe ihn damals beim Skilaufen in Südtirol erreicht, wird erzählt.
Es waren vor allem die Jahre in Duisburg-Beek die ihn als jungen Kaplan geprägt hätten, sagte der 1932 geborene Grave einmal rückblickend über die Zeit Anfang der 1960er Jahre in der damaligen Arbeiterpfarrei St. Laurentius zwischen den großen Stahlwerken der Hafenstadt. Seitdem waren ihm die Sorgen und Nöte der Menschen im Ruhrgebiet ebenso vertraut wie die schon damals spürbaren Strukturprobleme seiner von der Schwerindustrie geprägten Heimat. Die Verkündigung des Evangeliums war für Grave daher stets untrennbar mit dem Auftrag verbunden, die Welt aus christlicher Verantwortung zu gestalten.
Schon als Diözesanpräses der Kolpingfamilien im Bistum Essen (1966 bis 1971) und der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (1979 bis 1982) ging es ihm stets darum, die katholische Soziallehre im Alltag umzusetzen. „Was können wir konkret für die Menschen tun?“, fragte er immer wieder. „Folgenlose theoretische Diskussionen mochte Weihbischof Grave ebenso wenig wie überflüssige Sitzungen“, erinnert sich Bischof Overbeck, „auch wenn wir wissen, dass er durchaus und nachhaltig sein Wort zu machen verstand“.
Der erste Ruhrbischof Franz Hengsbach übertrug dem jungen Priester 1970 die Leitung des Seelsorgeamtes im Bischöflichen Generalvikariat. Von Anfang an machte Grave deutlich, dass die hauptamtliche Seelsorge und der ehrenamtliche Dienst engagierter Laien keine Gegensätze sind. Gemeinsam mit dem Diözesanrat der katholischen Frauen und Männer im Bistum Essen, deren Geistlicher Assistent Grave über zwei Jahrzehnte war, brachte er zahlreiche Initiativen auf den Weg. So zum Beispiel die bundesweit beachteten Aktionen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und die Hilfen für benachteiligte Jugendliche.
Mit Graves Namen eng verbunden bleibt auch der vom Ruhrbistum herausgegebene Essener Adventskalender, der seit dem Start Mitte der 1970er Jahre bis heute in jedem Advent nicht nur Familien im Bistum Essen erfreut, sondern mit Auflagen von bis zu 200.000 Stück bundesweit zu den erfolgreichsten Druckerzeugnissen der Katholischen Kirche gehört. Auch weitere Aktionen in der Familienpastoral sowie die Initiative zum Schutz des Sonntags tragen Graves Handschrift.
Erst recht als Weihbischof machte Grave sich für die Arbeiter im Revier stark. Der Strukturwandel hatte Spuren hinterlassen. Grave brachte unter anderem eine in ganz Deutschland als vorbildlich bezeichnete Aktion zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Jugendlichen auf den Weg. Maßgeblich wirkte er zudem 1997 an einem gemeinsamen Wort von evangelischer und katholischer Kirche zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland mit.
Grave stritt für die katholische Soziallehre und betonte, der Mensch müsse Vorrang haben im Wirtschaftsprozess. Die Kirche sah er in der Rolle eines Vermittlers. Sie könne nicht den Sachverstand der Sozialpartner ersetzen. Sie könne aber „geschützte Räume“ zur Verfügung stellen, um einen offenen Meinungsaustausch zwischen Interessenvertretern zu ermöglichen.
Als 1991 Bischof Kardinal Franz Hengsbach von Essen starb, wählten die deutschen Bischöfe Franz Grave als seinen Nachfolger an die Spitze der Adveniat-Kommission, des Aufsichtsorgans der Bischofskonferenz über die Arbeit der Adveniat-Geschäftsstelle in Essen. Der Bischof aus dem Ruhrgebiet stürzte sich mit Elan in die neue Aufgabe. Er lernte Spanisch, bereiste einen ihm bis dahin unbekannten Kontinent. Kurze Zeit später galt er bereits als Kenner Lateinamerikas.
Franz Grave reiste zu den Generalversammlungen der lateinamerikanischen Bischöfe 1992 in Santo Domingo und 2007 in Aparecida. Er nahm an Vollversammlungen des lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM teil und wurde von Papst Johannes Paul II. in den Päpstlichen Rat für Lateinamerika (CAL) berufen. Er begleitete als Fachmann deutsche Regierungsdelegationen bei Reisen nach Lateinamerika. 2007 war er mit dem Bundespräsidenten in Südamerika. Anschließend zog Horst Köhler Bilanz: „Gelebte Nächstenliebe kennt viele Formen und Ausdrucksweisen. Unter anderem trägt sie die Namen ‚Adveniat‘.“
Franz Grave verarbeitete seine Eindrücke und Begegnungen in Lateinamerika in zahlreichen Büchern, Predigten und Rundfunkandachten – und sogar in Web-Blogs. In unzähligen Interviews stand er Rede und Antwort. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Adveniat wussten, dass der Weihbischof „seine“ Führungskräfte kannte: Kein Referent, der nicht das Vorstellungsgespräch beim „Vorsitzenden“ absolviert hätte. Die meisten von ihnen durften Franz Grave auf einer seiner Lateinamerika-Reisen begleiten und erfuhren, welch immenses Arbeitspensum der Bischof dabei bewältigte.
Wenn die Not in Lateinamerika groß war, war er zu stelle. Etwa in Honduras 1998: Nur wenige Tage nach dem verheerenden Hurrikan Mitch: Die Hauptstadt Tegucigalpa war zu einer Trümmerwüste geworden. Ein Fluss, der zum reißenden Strom wurde, hatte die Häuser hunderter Familien zerstört. In den schlammbedeckten Trümmern suchten Überlebende nach Resten ihrer wenigen Habseligkeiten. Mittendrin: der Essener Weihbischof Franz Grave. Der Vorsitzende der Bischöflichen Kommission Adveniat sprach den Menschen Trost zu, versprach langfristige Hilfen, betete mit den Menschen.
Weihbischof Franz Grave war „vor Ort“: in Tegucigalpa nach der Naturkatastrophe, bei den Indigenen im bedrohten Amazonas-Regenwald, in den überfüllten Heimen für Migranten in Mexiko an der Grenze zu den USA, bei Landlosen in Brasilien, auf der Straße mit Obdachlosen in der brasilianischen Megacity São Paulo oder bei den „Hispanics“, den aus Lateinamerika stammenden Tagelöhnern in Los Angeles in den USA. Franz Grave suchte das Gespräch mit den Menschen. Aus diesen Begegnungen schöpfe er die Kraft, die er für diesen Job brauche, sagte er einmal über seine Aufgabe, als Vorsitzender Verantwortung zu tragen für das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Grave setze diese Kraft ein für einen unermüdlichen Einsatz für die Armen und Entrechteten in Lateinamerika, des Kontinents, den der Mann aus dem Ruhrgebiet lieben gelernt hatte.
Aus Anlass seines 75. Geburtstages drückte der langjährige Vorsitzende des Lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM, Erzbischof Jorge Jimenez aus dem kolumbianischen Cartagena die Verbundenheit der Kirche in Lateinamerika mit Franz Grave so aus: „Wir schätzen an Ihnen, nicht nur diese solidarische Unterstützung für die Kirche in Lateinamerika und der Karibik, sondern ebenso Ihre persönliche Liebe zu unserem Volk, die Sie dazu veranlasste, unsere Sprache zu erlernen, brüderliche und freundschaftliche Beziehungen aufzubauen, unsere Nöte zu verstehen, sich von unserer Kultur bereichern zu lassen und außerdem zu vielfachen Anlässen, auf oftmals unwegsamen Pfaden, unsere Länder zu bereisen.“
Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Adveniat-Vorsitzenden blieb Franz Grave „seinem“ Hilfswerk Adveniat treu. Immer wieder sammelte er Spenden für die Menschen in Lateinamerika und freute sich, wenn Bischöfe aus dem „Kontinent der Hoffnung“ in Essen zu Gast waren. Dann war er, wie einst „vor Ort“ in Lateinamerika, ganz bei den Nöten „seines“ Kontinents.
Grave erhielt 2001 die Ehrendoktorwürde des Universität Tegucigalpa. 2006 bekam er den Verdienstorden des Landes NRW. 2010 wurde er auch mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Nach seiner Emeritierung 2008 verlor der Fußballfan und begeisterte Bergwanderer die seelsorglichen und sozialen Probleme nicht aus den Augen. „Jeder sieht, dass die Kirche und ihre Lage reformbedürftig ist“, sagte er 2019 in einem Interview mit Neues Ruhrwort. „Die zölibatäre Lebensform der katholischen Priester, die etwas für sich hat, kann nicht der alleinige Weg in die Zukunft sein“, glaubt Grave. „Wir müssen als Kirche auch über andere Formen des priesterlichen Wirkens nachdenken.“
Er könne sich nicht vorstellen, dass der zölibatäre Lebensweg „in Zukunft der einzige Weg zum Priesteramt“ sein werde. „Wir müssen das Priesteramt für weitere Formen öffnen“, forderte der damals 86-Jährige aus Anlass seines 60-jährigen Priesterjubiläums. „Ich kann mir auch lebenserfahrene verheiratete Männer als Priester vorstellen. Auch die Diskussion über Frauen im Priesteramt halte ich für eine gute Position. Wir dürfen es der Kirche nicht antun, sie von neuen Formen des Priesteramtes abzuschneiden.“
Mit großem Engagement arbeitete er als „Pastor im Ruhestand“ in der Mülheimer Pfarrei St. Mariä Geburt mit, feierte mit den Gläubigen die heilige Messe, begleitete trauernde Angehörige und unterstützte das Seelsorge-Team. Graves Meinung und sein Rat waren auch als Senior im Ruhrbistum gefragt: „Bis ins hohe Alter war Weihbischof Grave unermüdlich fleißig und furchtlos, kirchlich und weltlich, aufmerksam und energisch“, sagt Bischof Overbeck. Regelmäßig habe Grave mit ihm und den anderen Bischöfen im Austausch gestanden, bis die altersbedingten Beschwerden ihm zunehmend die Kraft raubten. „Nun ist eine wichtige Stimme des Ruhrbistums und des Ruhrgebiets für immer verstummt“.
Am Samstag, 26. Februar, feiert Bischof Overbeck um 10 Uhr im Essener Dom das Requiem für den Verstorbenen. Anschließend erfolgt die Beisetzung auf dem Kapitelsfriedhof.