Befreiung von Schuld durch Gott setzt voraus, selber anderen zu vergeben. Das erfordert neben Selbsterkenntnis Empathie und die Stärke, anderen die Chance zu Korrektur und Umkehr einzuräumen.

„Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du bittest, deine Sünden vergeben!“ Nur so kann die Kirche als Ort und Zeichen der Einheit und des Friedens in der Welt gelebte Wirklichkeit sein. Foto: © Stockbakery/dreamstime.com
Wie oft mag ich in meinem Leben schon das Vaterunser (mit)gesprochen haben und darin – mehr oder minder bedacht – die Bitte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“?
Das Vaterunser ist immer Gemeinschaftsgebet. Auch eine einzelne Person, die es spricht, weiß sich verbunden mit allen, denen Gott als Vater zugewandt ist. Alle haben seinem Willen und dem Kommen seines Reiches im Wege gestanden. Sie sind Gott etwas schuldig geblieben beziehungsweise vor ihm schuldig geworden. Und die so Betenden wissen, dass die Erhörung ihrer Bitte um sein Verzeihen aufs engste mit ihrer eigenen Vergebungsbereitschaft zu tun hat.
Im Evangelium dieses Sonntags fragt Petrus nach einer Grenze für diese Vergebungsbereitschaft: „Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal?“ Das klingt großzügig. Die Sieben gilt ja als Zahl der Fülle. Jesus greift sie auf: „bis zu siebzigmal siebenmal“. Unbegrenzt muss die Vergebungsbereitschaft sein.
Mit einer Gleichnis-Erzählung ermutigt Jesus dazu. Sie handelt von der schier unglaublichen Bereitschaft Gottes, selbst größtes Unrecht zu vergeben. Und dennoch gibt es eine Grenze. Befreiung von Schuld durch Gott erfordert, selber anderen zu vergeben. Bereitschaft dazu ist kein Zeichen von Schwäche. Sie erfordert neben Selbsterkenntnis Empathie und die Stärke, andere nicht auf ihr Versagen festzulegen, sondern ihnen die Chance zu Korrektur und Umkehr einzuräumen.
Vergebung macht Dinge nicht ungeschehen, räumt sie aber in einem unter Umständen schwierigen Prozess als Hindernisse aus dem Weg. Sie ist ein Beitrag zur Krisenbewältigung im privaten, gesellschaftlichen wie kirchlichen Leben. Vergebung und Reue sind unter Gläubigen Ausdruck des gemeinsamen Bemühens, sich für das Reich Gottes zu öffnen.
Deshalb: „Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du bittest, deine Sünden vergeben!“ So die Erste Lesung aus dem Buch Jesus Sirach. Sie endet mit der Aufforderung: „Denk an die Gebote und grolle dem Nächsten nicht, denk an den Bund des Höchsten und übersieh die Fehler!“
Das Wort „Gebot“ lässt vielleicht zunächst an Befehl und Einschränkung denken. Mit dem Stichwort „Bund“ weist Jesus Sirach aber auf die Gotteserfahrung in Israel hin, auf Gottes befreiende Erwählung und bleibende Verbundenheit mit seinem Volk. Gebote sind Weisungen, Wegweiser für das Leben in Freiheit. Vielleicht kann man sogar sagen: Sie sind Bitten Gottes, sich auf seinen erlösenden Lebenswillen für uns und andere einzulassen. In Jesus Christus ist ca. 200 Jahre nach Jesus Sirach der Befreiungs- und Vergebungswille Gottes in ungeahnter Weise menschlich sichtbar geworden.
Am Kreuz hat Jesus den Kreislauf von Distanz und Vergeltung durchbrochen. Durch ihn ist ein Neuanfang für die Menschen in ihrer Beziehung zu Gott und zueinander Wirklichkeit geworden. In jeder Eucharistiefeier bekennen sich die Versammelten dazu, unter anderem beim Brechen des Brotes: „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt.“ Das gebrochene Brot, Zeichen des gebrochenen Leibes Jesu, bezeugt anschaulich die Hingabe Jesu und den Befreiungswillen Gottes.
Mit dem Ruf um Erbarmen und Frieden bitten die Gläubigen darum, an Jesu Übereinstimmung mit dem Heilswillen Gottes teilhaben zu können. Ihre anschließend zum Empfang der Kommunion ausgestreckten Hände sind sichtbarer Ausdruck des Verlangens danach. Voraus geht (hoffentlich bald wieder regelmäßig) ein anderes Ausstrecken der Hand. „Gebt einander ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung“, lautet die Aufforderung dazu. Es geht in diesem Friedensgruß um den gegenseitigen Wunsch, die Vergebungsbereitschaft Gottes in Jesus Christus heute neu erfahren und sich miteinander daran in Freiheit ausrichten zu können.
Eine ausgestreckte Hand kann auch zum Würgegriff (so im Gleichnis Jesu) oder zur Faust werden. „Wer die Faust erhebt, erhebt das Dunkel zum Zeichen“, heißt es in einem Gedicht von Reiner Kunze. Denn: „Die Finsternis in der Faust ist ein Stück der Finsternis in uns.“ Dennoch gibt es ein solches Erheben der Hand auch in der Liturgie. Allerdings richtet jede Person sie so nur gegen sich selbst, wenn nach einer Zeit der Besinnung das „Confiteor“ gesprochen wird, zwar gemeinsam, aber immer im Singular: „Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe – ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken – durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld …“
„Alle schlagen an die Brust“, heißt es dazu in den liturgischen Büchern (vgl. GL 582,4). Das Zeichen unterstreicht das Schuldeingeständnis, aber auch den anschließenden Wunsch: „Darum bitte ich …, für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn.“ Alle wissen sich angewiesen auf das fürbittende Einstehen füreinander vor Gott und auf die Vergebungsbereitschaft untereinander. Nur so kann die Kirche nach Jesu Willen und Verheißung als Ort und Zeichen der Einheit und des Friedens in der Welt gelebte Wirklichkeit sein, nur so die ewige Befreiung im Gericht Gottes erhofft werden.