Bis 1963 beäugte die Kirche die Menschenrechte eher skeptisch. Ein neues Dokument stellt nun die Menschenwürde in den Mittelpunkt. Einer Expertin fehlt jedoch der selbstkritische Blick.
Bonn – Mehr Selbstkritik hätte sich die Dogmatikerin Gunda Werner in der Erklärung des Vatikans zur Menschenwürde gewünscht. Es sei „Augenwischerei, so zu tun, als habe Würde immer im Zentrum kirchlicher Argumentation gestanden“, sagte Werner in einem Interview des Portals katholisch.de am Dienstag. Historisch gesehen habe sich die Kirche kaum auf die Würde aller Menschen bezogen, „stattdessen ging es vor allem um die Würde des Mannes“.
Es sei wichtig, dass das am Montag veröffentlichte Dokument „Dignitas infinita“ (Unendliche Würde) etwa Gewalt in der digitalen Welt, Gewalt gegen Frauen und Menschenhandel thematisiere. Jedoch werde etwa sexualisierte Gewalt in wenigen Sätzen abgehandelt, kritisierte die Theologin. „Missbrauch wird als Hindernis für die Sendung der Kirche erkannt, aber dass es innerhalb der Kirche vielleicht Strukturen gibt, die Missbrauch begünstigen, kommt nicht vor. Eine Wendung des Blicks nach innen fehlt völlig, das eigene Handeln der Kirche bleibt unreflektiert.“
Fehlende Selbstreflexion zeige sich auch an anderen Beispielen. So würden „gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Gleichberechtigung und gleiche Aufstiegschancen im Beruf“ zu Recht einfordert, erklärte Werner. „Aber dann steht da kein einziger Satz dazu, dass es vielleicht doch ein bisschen peinlich ist, dass es diese Chancen bei uns in der Kirche nicht gibt“. Ebenso klafften die Aussagen zu homosexuellen Menschen und Transpersonen auseinander: Einerseits würden Staaten ermahnt, nicht gegen diese vorzugehen, andererseits werde „nach innen jede homosexuelle Handlung“ verurteilt und Transmenschen das Existenzrecht abgesprochen.
Unklar bleibe zudem, gegen welche Gender-Theorien sich das Lehramt wende. „Gender-Theorien wollen keinen neuen Menschen schaffen“, betonte die Wissenschaftlerin. Vielmehr gehe es ihnen darum, eine „radikale Diversität“ des Menschen zum Ausdruck zu bringen, damit „Menschen für die Art und Weise, wie sie sich verstehen und wie sie sich vorfinden, Worte für sich selbst finden“. Über diese Themen werde derweil auch in Afrika, Lateinamerika oder Asien gesprochen und gerungen. Es sei „eine Form kolonialen Denkens, wenn man Debatten mit dem Argument abwürgen will, weil ‚die Weltkirche‘ angeblich noch nicht so weit sei.“