Wie eine Berghütte

Herbert_Haslinger

Herbert Haslinger Foto: Bonifatius Verlag

In den deutschen Diözesen werden derzeit Großpfarreien und Pfarreienverbünde gegründet. Zu den Kritikern dieser Entwicklung zählt der Pastoraltheologe Herbert Haslinger, der seit langem dafür plädiert, Kirche müsse am Ort präsent bleiben. Jetzt hat er ein Buch zum Thema geschrieben, in dem er auch einen Gegenvorschlag macht: die Gemeinde als Berghütte. Im Interview  erläutert er seine Vorstellung.

Herr Professor Haslinger, in den deutschen Diözesen entstehen gerade nahezu flächendeckend Großpfarreien oder große Seelsorgeeinheiten. Sie kritisieren diese Entwicklung. Warum?

Haslinger: Die Bedenklichkeit der neuen pastoralen Strukturen besteht zunächst darin, dass sie schlichtweg quantitativ zu groß geraten. Großpfarrei-Gebilde, auf deren Territorium 30000, 40000 Menschen leben, können Seelsorgerinnen und Seelsorger nicht mehr annähernd überblicken. Bedenklich daran ist aber vor allem eine Veränderung, in der praktisch alle diesbezüglichen Konzepte übereinstimmen: Die Seelsorgerinnen und Seelsorger werden aus der unmittelbaren Präsenz vor Ort in den Gemeinden abgezogen und auf der größeren Strukturebene der neuen Seelsorgeeinheit beziehungsweise Großpfarrei angesiedelt. Dadurch verlieren sie ihren Bezug zu den alltäglichen Lebensformen und Lebensproblemen der Menschen. Die Verwurzelung des Seelsorge-Personals in den Lebenswirklichkeiten der Menschen ist aber die unabdingbare Grundlage für eine fundierte Seelsorgepraxis. Das heißt: Die pastoralen Großstrukturen in ihrer derzeitigen Form zerstören die Grundlage für das, was die genuine Aufgabe der Kirche ist, nämlich Seelsorge.

Aber die Probleme, auf die die Diözesen damit reagieren, sehen Sie doch auch, oder?

Haslinger: Die Probleme sehe ich sehr wohl. Zu offenkundig liegt auf der Hand, dass nicht mehr annähernd alle bestehenden Gemeinden nach bisherigem Modus mit einem Priester besetzt werden können. Aber die Bewältigung der Probleme kann unmöglich darin bestehen, dass die grundlegende theologische Bestimmung der Kirche konterkariert und das Verhältnis zwischen Kirche und Menschen auf den Kopf gestellt wird. Das theologische, genauer: sakramentale Wesen der Kirche – und somit jeder ihrer Strukturen und Sozialformen – besteht darin, dass sie Instrument für das Heil der Menschen ist. Die Kirche darf sich nie selbst zum Wert und Zweck ihres Handelns machen. Kirche und Gemeinden sind für die Menschen da – nicht umgekehrt. Diese Verhältnisbestimmung verkehrt sich mit den pas­toralen Großstrukturen in ihr Gegenteil.

Inwiefern?

Haslinger: Sie basieren auf der Voraussetzung, dass der Zuschnitt des Weiheamtes nicht verändert werden darf, dass aber immer weniger Männer für das so gestaltete Weiheamt zur Verfügung stehen. Deshalb folgen sie allesamt der Maxime, dass nun in möglichst großem Umfang die Gläubigen selber in Form von ehrenamtlichem Engagement anstelle der hauptamtlichen Seelsorger das kirchliche Leben vor Ort in den Gemeinden bewerkstelligen sollten. Die neuen pastoralen Strukturen forcieren damit exzessiv eine Idee, die sich in den vergangenen Jahrzehnten wie ein unhinterfragbares Dogma in die Gehirne eingebrannt hat: Aufgabe der Gläubigen sei es, durch Teilnahme, Engagement und Bindungsbereitschaft den Bestand der Kirche zu bewahren; Gemeindemitglieder würden sich in dem Maße als gute Christen erweisen, in dem sie durch Mitarbeit zur Lebendigkeit von Kirche und Gemeinde beitragen. Genau hier passiert die fatale Umkippung von Zweck und Mittel: Die Kirche macht sich selbst zum Zweck und die Menschen zu ihren Instrumenten.

Welche Lösung sehen Sie?

Haslinger: Mein Vorschlag lautet, es bei einer pastoralen Strukturebene – nämlich den Gemeinden – zu belassen. Jeder Gemeinde wird aus dem Bestand des hauptamtlichen pastoralen Personals eine Seelsorgerin oder ein Seelsorger unmittelbar zugeordnet. Selbst wenn man Personalreserven berücksichtigt, ergibt sich dann für die Diözesen in Deutschland eine durchschnittliche Gemeindegröße von rund 3600, jedoch maximal 5000 Katholiken. Natürlich muss man sich bei dieser Lösung von der Fiktion verabschieden, man könne zum alten Ideal von „Gemeindeleben“ zurückkehren. Die Seelsorger in den Gemeinden können und sollen nicht mehr die sein, die ständig ein umfangreiches Programm an Aktivitäten initiieren, möglichst viele Gläubige zum Mitmachen bei diesen Aktivitäten animieren und das Gelingen ihres pastoralen Handelns nach der Anzahl der Mitmachenden bemessen. Vielmehr bedürfen Gemeinden einer radikalen Entrümpelung vom Sammelsurium ihrer selbstbezüglichen Aktivitäten.

Für die Gestalt zukünftiger Gemeinden kann aus Ihrer Sicht das Bild der Berghütte Orientierung geben. Bitte erklären Sie das.

Haslinger: Berghütten befinden sich verlässlich an den Wegen der Wanderer; sie bestehen nicht um ihrer selbst willen und auch nicht dazu, dass sich die Wanderer möglichst lange in ihnen aufhalten. Ihr Zweck ist es vielmehr, Wanderern das zu geben, was sie für ihre Wege brauchen: Schutz, Rast, Stärkung. In gleicher Weise sollen Gemeinden feste, erreichbare, verlässliche Anlaufstellen an den alltäglichen Lebensorten der Menschen sein. Sie dürfen nicht darauf aus sein, die Menschen an sich zu binden. Ihre Aufgabe besteht darin, den Menschen zu helfen, den je eigenen Lebensweg auf gelingende Weise zu gehen. Die Seelsorger in den Gemeinden müssen das, was die Menschen von ihnen für ihre individuellen Lebenswege erwarten können, verlässlich bereithalten. Die einen werden diese Station „Gemeinde“ öfters und regelmäßig ansteuern, andere nur sporadisch und unregelmäßig. Aber alle Menschen haben Anspruch auf diese Hilfe.

Wie realistisch ist so eine Vision?

Haslinger: Ihre Frage könnte suggerieren, dass sich die derzeitigen Großstrukturen dem gegenüber doch als die realistischere Option erweisen. Hier bedarf es eines offenen Wortes: All diese Großgebilde – ob sie nun „Seelsorgeeinheit“, „Pfarreiengemeinschaft“, „pastoraler Raum“ oder sonst wie heißen – funktionieren nur auf dem Papier der Hochglanzbroschüren und Leitbildschriften. Angesichts der Verwerfungen, Konflikte, Enttäuschungen, Abbrüche und Frustrationen, welche die Umstrukturierungen tatsächlich vor Ort bei den betroffenen Menschen auslösen, kann man nicht ernsthaft behaupten, dass es sich um eine realitätstaugliche Konzeption handelt. Die Präsentation dieser Großstrukturen als vermeintlich zukunftsträchtige Gestalt der Kirche funktioniert nur, weil man dabei die Wahrnehmung auf das enge Segment der Personen beschränkt, die sich in das paternalistische Schema des bereitwilligen Mitmachens einfügen. Und sie funktioniert nur, weil man dabei die alltäglichen Lebenswirklichkeiten der Menschen ausblendet, die Enttäuschungen und Brüskierungen der Menschen vor Ort tabuisiert sowie die große Masse derjenigen Menschen ignoriert, die sich stillschweigend von der Kirche verabschieden. Klingt angesichts dessen mein Vorschlag wirklich so unrealis­tisch?
Interview: Angelika Prauß (kna)

Zur Person
Herbert Haslinger, Jahrgang 1961, ist Professor für Pastoraltheologie, Homiletik, Reli­gionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Fa­kultät Paderborn. Davor hatte er wissenschaft­liche Tätigkeiten an den Universitäten in Mainz und Rottenburg-Stuttgart übernommen. Ehrenamtlich war Haslinger lange Jahre Diözesanleiter der Jugendverbände in der Gemeinschaft Christ­lichen Lebens (J-GCL) in Passau sowie Firmkatechet und Pfarrgemeinderatsvorsitzender seiner Heimatgemeinde in Niederbayern. Haslingers neues Buch „Gemeinde – Kirche am Ort. Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils“ ist erschienen im Bonifatius Buch­verlag, Paderborn 2016; es kostet 13,90 Euro.