Am Montagabend ist der Albtraum wahrgeworden, den Sicherheitskräfte, Politiker und die Betreiber von Weihnachtsmärkten und anderen Großveranstaltungen schon lange befürchtet haben. Der Anschlag von Berlin hat einmal mehr gezeigt, wie verwundbar jede offene, freiheitliche und normal lebende Gesellschaft ist. Auffallend – im positiven Sinne – ist, dass auch dieses Mal, bei aller Trauer und Betroffenheit, die Mahnung zur Besonnenheit und die Besinnung auf die eigenen Stärken und Werte in vielen Kommentaren und Stellungnahmen überwiegen. Selbst die Bild-Zeitung hielt sich – zumindest für ihre Verhältnisse – am Tag nach dem Anschlag zurück. Und das, obwohl dieses Mal mit der deutschen Hauptstadt und einem Weihnachtsmarkt zur Feier des Christfestes zwei äußerst symbolbeladene Orte betroffen waren. Doch anders, als bei früheren Attentaten, wie etwa in Paris, verzichtete Bild auf das reißerische Wort „KRIEG“. Und das war vielleicht nicht nur der zunächst noch unklaren Nachrichtenlage geschuldet, die bis Dienstagmorgen nicht eindeutig von einem Anschlag sprach.
Es mutet vielleicht für manchen wie Beschwichtigungspolitik oder wie hilflos und gebetsmühlenartig wiederholte Parolen an, wenn Politiker, die Polizei und Sicherheitsexperten oder auch die Kirchen zur Besonnenheit aufrufen und dazu, sich auf unsere Werte zu besinnen und an ihnen festzuhalten. Doch geht es dabei nicht nur darum, Panik möglichst zu vermeiden und den Staat als handelnden Souverän darzustellen und zu stärken, auch wenn seit langem klar ist, dass es keine vollkommene Sicherheit geben und somit der Staat auch nie bis zum Letzten für sie sorgen kann. Es geht bei den mahnenden Worten auch darum, die viel beschworenen Werte einer demokratisch verfassten und freiheitlich orientierten Gesellschaft mit Leben zu füllen.
In diesem Jahr haben wir an vielen Beispielen erlebt, wie brandgefährlich Hasswellen im Internet und in den Sozialen Medien sein können. Und wir haben auch erlebt, wie die Spaltung einer Gesellschaft vorangetrieben werden kann, wenn manipulative Kräfte auf der Klaviatur von Verunsicherung, Hetze, Hass, Verlust- und Terrorangst spielen. Des Weiteren zeigen Wahlergebnisse und Wahlprognosen sowie politische und soziale Debatten, wie sich ganze Schichten politisch radikalisieren (lassen). Bereits jetzt fürchten viele, dass Anschläge wie der von Berlin Parteien wie der AfD in die Hände spielen werden und diese womöglich bei der kommenden Bundestagswahl bei 30 Prozent oder mehr landen könnte – und damit bei der Stärke einer Regierungspartei. Besser wäre es, all das nicht öffentlich noch zu beschreien und damit erst recht Menschen aus Protest oder Unwissenheit in die Arme von Radikalenfängern zu treiben.
Die Antwort auf Gewalt kann und darf niemals Gewalt sein, die Antwort auf Radikalisierung nicht Radikalisierung – es sei denn eine Radikalisierung zum unbedingten Festhalten am Frieden und dem Prinzip der Freiheit. Denn wenn wir – so verständlich es emotional wäre – mit Hass auf Hass, mit Gewalt auf Gewalt, mit Abschottung und Ausgrenzung auf jegliche Separierung und Spaltung reagieren, die mit einem Gewaltakt ausgedrückt wird, dann haben wir das Ringen um die zukünftige Gestalt der Welt schon verloren. Nicht von ungefähr hält die Internationale Katholische Friedensbewegung Pax Christi unbeirrbar an ihren Forderungen nach Gewaltfreiheit und Friedensarbeit fest. Und auch Papst Franziskus betont immer wieder, dass es zum Frieden keine Alternative gibt, obwohl auch er – wie andere Religionsvertreter – Terror und Gewalt selbstverständlich verurteilt und zu deren strafrechtlicher Verfolgung aufruft. Es ist also kein Zeichen von Schwäche oder Naivität, wenn Frieden und Gewaltlosigkeit beschworen werden oder auch die demokratische Grundordnung.
Unbestritten ist dabei, dass es dringend geboten ist, auf internationaler Ebene Antworten zu finden und einen Umgang mit der fortbestehenden Gefahr extremistischer Gewalttaten und Anschläge sowie mit den zahlreichen Brand- und Krisenherden in der Welt. Und auch national gilt es, Antworten auf gesellschaftliche Fragen und Probleme zu finden – Antworten, die die Ängste und Sorgen der Menschen ernstnehmen und berücksichtigen. Der Weg zum Frieden kann aber nur erfolgreich beschritten werden, wenn es ein Weg der Einigkeit und der Einheit ist.
„Doch Gott flieht nicht, Gott bleibt bei den Menschen, bei den Verzweifelten, bei den Ohnmächtigen.“
Und wenn gemeinsam an den Themen Bildung, Gerechtigkeit und Frieden gearbeitet wird. Auch der Berliner Erzbischof Heiner Koch fand mahnende Worte zur Einheit im ersten Gedenken am Dienstagmittag in der St.-Hedwigs-Kathedrale. „Wir lassen uns nicht teilen, wir bleiben zusammen“, sagte er bei der von Polizisten gesicherten Gedenkstunde, zu der rund 400 Menschen kamen. „Es war Nacht in Berlin“, sagte Koch mit Blick auf den Anschlag am Montagabend, „und es ist immer noch Nacht in Berlin“ mit Blick auf die Trauer. „Es ist Nacht in der Welt“, fuhr der Erzbischof fort und erinnerte auch an die Attacken vom Montag in der Schweiz und in der Türkei. „Doch Gott flieht nicht, Gott bleibt bei den Menschen, bei den Verzweifelten, bei den Ohnmächtigen.“ Unerträglich sei es, „wie jetzt schon wieder angefangen wird, nach Konsequenzen zu rufen, nach Schuldigen“.
Es gelte zunächst, die Trauer und den Schock im Schweigen auszuhalten. „Hier gibt es nichts zu erklären mit frommen Worten“, räumte Koch ein. „Wir müssen die Leere aushalten, das Nicht-Verstehen-Können. Das ist vielleicht die größte Hilfe, die wir den Trauernden geben können.“ Im Schweigen an der Seite der Trauernden und Ängstlichen sein, wo wortloses Entsetzen erst einmal alles übersteigt.
„Nur wenn wir immer wieder für die Würde des Menschen einstehen und den Weg der Versöhnung gemeinsam gehen, können wir Terror, Mord, Gewalt und Hass überwinden“
„Der Vorfall im Zentrum Berlins macht mich fassungslos”, sagte der Essener Bischof Fran-Josef Overbeck in einer ersten Reaktion am Dienstag. „Lassen Sie uns gemeinsam des Schicksals der Ermordeten und der zahlreichen Verletzten und des Leids, das über die Angehörigen gekommen ist, gedenken und für sie beten.“ Denn in Zeiten, in denen oft die Worte fehlten, helfe das gemeinsame Gebet. „Dass Menschen nach dieser grausamen Tat Angst haben, ist verständlich“, so Overbeck. Es sei aber wichtig, diese Angst wieder zu überwinden und sich nicht der Absicht der Täter, in unserer Gesellschaft Angst und Hass zu sähen, zu ergeben. „Nur wenn wir immer wieder für die Würde des Menschen einstehen und den Weg der Versöhnung gemeinsam gehen, können wir Terror, Mord, Gewalt und Hass überwinden“, betonte Overbeck.
Obwohl der deutsche Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller im Anschlag von Berlin einen „möglichen antichristlichen Hintergrund“ und so kurz vor dem christlichen Weihnachtsfest wohl „berechneten“ Gewaltakt sieht, ruft auch er dazu auf, zusammenzurücken und „Streit und Auseinandersetzung in einer guten Weise zu lösen und zu überwinden“. Darüber hinaus wandte Müller sich gegen Pauschalurteile über Ausländer und einen Generalverdacht gegenüber Migranten und Flüchtlingen. Man müsse „klar unterscheiden“ beim Benennen von Schuldigen. „Andere, die vielleicht aus demselben Herkunftsland kommen, dürfen deswegen nicht verdächtigt werden“, betonte der Kardinal. Jetzt sei die Zeit, „dass wir umso mehr Brücken bauen, zueinander Verständnis entwickeln und einen gemeinsamen, friedlichen Weg in die Zukunft gehen.“
Nach den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt sind am Dienstagabend auch zahlreiche Essener Weihnachtsmarktbesucher zusammen mit Vertretern der Stadt und der Kirchen zu einer ökumenischen Andacht auf dem Kardinal-Hengsbach-Platz zusammengekommen. „Die schreckliche Nachricht führt uns zusammen, um ein Stück weit zu begreifen, was für uns unfassbar ist“, sagte der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU). Auf dem Markt war die Musik abgeschaltet, zudem waren trotz des guten Wetters spürbar weniger Besucher unterwegs. „Wer einen Weihnachtsmarkt angreift, der will uns alle treffen“, sagte der Oberbürgermeister, während gegenüber der Bühne Polizisten mit Maschinenpistolen patrouillierten. Kufen betonte: „Wir sind eine offene, eine tolerante Stadt.“ Hass und Gewalt dürften nicht siegen über Freiheit und Mitmenschlichkeit. Die Stadt setze alles daran, für Sicherheit zu sorgen – niemand solle sich in seinen Lebensgewohnheiten einschränken. Angesichts von Trauer und Verunsicherung zeigte sich Kufen „dankbar, dass gerade in solchen Situationen die beiden großen Kirchen uns ein Stück weit Orientierung geben“.
„Teilen Sie diese Geschichte mit anderen Menschen, dass sich diese Friedensbotschaft wie ein Lauffeuer verbreitet.“
Stadtdechant Dr. Jürgen Cleve und die evangelische Superintendentin Marion Greve luden zum gemeinsamen Gebet für die Opfer von Berlin und stellten den Frieden der Weihnachtsbotschaft ins Zentrum ihrer kurzen Ansprachen – das „Fürchtet euch nicht!“ der Engel in der Weihnachtsgeschichte und das „Hoffen und Warten auf den Friede-Fürst“, wie Greve es formulierte. Zusammen mit Cleve las sie die Geschichte der vier Kerzen Frieden, Glaube, Liebe und Hoffnung vor, die nacheinander verlöschen, bis nur noch die Hoffnungs-Kerze brennt, die schließlich alle anderen wieder entzündet. Cleve verteilte Kopien der Geschichte an die Besucher der Andacht und warb: „Teilen Sie diese Geschichte mit anderen Menschen, dass sich diese Friedensbotschaft wie ein Lauffeuer verbreitet.“
Die Trauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper äußerte sich unterdessen positiv über die Appelle von Kirchenvertretern, nach dem Anschlag von Berlin bewusst Weihnachten zu feiern. „Ich denke, das erreicht viele Menschen wie ein politischer Aufruf.“ Die Worten machten Mut, riefen zu einer friedlichen Haltung auf und zeigten, „dass niemand gottverlassen allein in dieser Dramatik ist“, erklärte die Gründerin und Leiterin des Lavia Instituts für Familientrauerbegleitung in Gelsenkirchen.
Wenn Menschen gewaltsam ums Leben kommen, beeinflusse das nach ihrer Einschätzung die Reaktion der Angehörigen. „Es ist dann nicht das Schicksal, sondern ein Mensch, der Lebenszeit genommen hat“, sagte sie. Das Sicherheitsgefühl könne darunter leiden: „Da, wo ich dachte, ich bin gut aufgehoben, ist ein Vertrauensbruch geschehen“. Der gewaltsame Tod nehme noch stärker als ein Versterben durch Krankheit oder Altersschwäche das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben. „Und er nimmt mir die Option, mich zu vergewissern, dass der Tod nicht zu verhindern war.“ Auch Wut, Hass und Unverständnis könnten Folgen sein. „Wenn das Herz von Wut belegt ist, haben Liebe und Trauer weniger Platz“, so die Pädagogin. Zudem sei ein plötzlicher Tod grundsätzlich besonders schwer zu begreifen.
„Trauerreaktionen nehmen daher im ersten Jahr oftmals eher zu anstatt ab – teilweise auch darüber hinaus.“
Das öffentliche Interesse sei für die Angehörigen von Opfern etwa des Anschlags eine zwiespältige Angelegenheit, sagte Schroeter-Rupieper, die unter anderen auch Hinterbliebene der 16 Schüler betreut, die beim Absturz der Germanwings-Maschine im Juni 2015 ums Leben gekommen waren. Einerseits tue es gut, wahrgenommen zu werden. Zugleich sei die ständige Konfrontation in den Medien schwer zu ertragen. Betroffenen könne man helfen, „indem man sie abschirmt und ihnen in Ruhe die Möglichkeit gibt, zu reden oder zu schweigen“. Zudem könne jeder im Umfeld sein Beileid ausdrücken und offen fragen, welche Hilfe gebraucht werde. Nicht hilfreich sei es dagegen, Menschen auf einen Terrorakt zu reduzieren nach dem Motto „da kommt die Frau von dem Mann, der bei dem Attentat starb“. Und bei aller gutgemeinten Unterstützung gelte es zu bedenken, dass Trauernde erst nach und nach realisierten, was sie alles verloren hätten. „Trauerreaktionen nehmen daher im ersten Jahr oftmals eher zu anstatt ab – teilweise auch darüber hinaus.“