Endspurt im Bundestagswahlkampf 2017. Am 24. September sind 61,5 Millionen Deutsche aufgerufen, den neuen Bundestag zu wählen – und über die Besetzung des Bundeskanzleramtes zu entscheiden. Mit dem Bonner Politikwissenschaftler und Publizisten Dr. Andreas Püttmann sprach „Neues Ruhr-Wort“ über das politische Klima, die Sorge um Wahlmanipulation – und über die Themen „Christen und die AfD“ sowie „die Kirche und die Politik“.

Andreas Püttmann. Foto:privat
Herr Dr. Püttmann, wie nehmen Sie kurz vor der Bundestagswahl das politische Klima in Deutschland wahr?
Püttmann: Oberflächlich betrachtet spult man geradezu geschäftsmäßig und ruhig das Wahlkampfprogramm ab, unterschwellig ist das Klima aber stark polarisiert, insbesondere durch das Aufkommen der Rechtspopulisten, die bis ins bürgerlich-konservative und linke Milieu vorgedrungen sind, obwohl ihre rechtsextremen, rassistischen und demokratiefeindlichen Anteile immer offener zu Tage treten. Das beunruhigt und empört viele Menschen. Freundschaften zerbrechen, linksradikale Gegenaktionen verlieren jedes Maß, fanatisches Hassgebrüll, insbesondere gegen Kanzlerin Merkel bei Auftritten im Osten, bis hin zu handgreiflichen Attacken gegen Mitarbeiter von Abgeordneten rufen dunkle Erinnerungen wach.
Viele Wähler sind verunsichert. Begriffe wie „Fake News“ und „Lügenpresse“ schwirren durchs Internet, dazu kommt die Sorge um Wahlmanipulation durch Computer-Angriffe aus dem In- oder Ausland. Andere leiden unter Politik- und Politikerverdrossenheit oder glauben, dass man ohnehin „nichts bewirken“ kann. Warum lohnt es sich, sein demokratisches Grundrecht auf Wahlen dennoch wahrzunehmen – und vor allem: warum ist es wichtig, wählen zu gehen?
Püttmann: Die dreisten Manipulations- und Verleumdungsversuche, wie wir sie schon aus der Brexit-Kampagne, dem US-Wahlkampf und der französischen Präsidentenwahl kennen, sollten anständige Demokraten eigentlich besonders motivieren, dieses Mal aktiv für unser Gemeinwesen einzustehen. Naserümpfende „Politikverdrossenheit“ können wir uns unter diesen Umständen eigentlich kaum noch leisten. Die Rede, „nichts bewirken zu können“, ist dumm und egozentrisch. Man ist nun mal nur einer unter zig Millionen Wahlberechtigten, da können die eigenen Erkenntnisse eben nicht gleich die Republik rocken. Wer sich in den Schmollwinkel des „Ohnmächtigen“ zurückzieht, wenn er sich nicht mit seinem Willen durchsetzen kann, hat die Demokratie nicht verstanden. Politiker sind auch keine Animateure, die das Volk bei Laune halten müssen. Sie haben zwar eine Bringschuld an Ausarbeitung politischer Alternativen, der Bürger hat aber auch eine Holschuld und muss sich unter Zeiteinsatz möglichst viele und valide Informationen beschaffen, auf deren Basis er sich entscheiden kann. Die Medien helfen ganz ordentlich dabei mit übersichtlichen Programmvergleichen und kritischen Interviews. Es ist wichtig, wählen zu gehen, damit die stets stärker motivierten Fanatiker von links und rechts kein überproportionales Gewicht im Parlament erhalten. Leider sind ja politisch-inhaltlich gemäßigte Menschen oft auch habituell etwas lau. Gerade in den so genannten „sozialen Netzwerken“ tummeln sich deshalb die Eiferer, Hetzer und Verschwörungstheoretiker. Die große Facebook-Armee der AfD legt Zeugnis davon ab.
In der Politikberichterstattung und in Diskussionen wird der Fokus oft auf das Thema AfD und einen – vermeintlichen? – Rechtsruck in der Gesellschaft gelegt. Wird das Thema und werden die Partei und die Strömung, für die sie steht, unter- oder überschätzt?
Püttmann: Weder noch. Die AfD wird zu recht ernst genommen. Auch destruktive Minderheiten können eine Gemeinschaft verderben, das erfährt man doch schon in Schulklassen. Die AfD wirkt auf Programmangebot und Stil anderer Parteien und weitet systematisch durch Provokationen die „Diskurszone“ aus. So lange und stabil über fünf Prozent war eine Partei rechts der Union in der Bundesrepublik noch nie. Dass Konservative darin mit Rechtsradikalen zusammenarbeiten, ist ein Novum. Gegen Herrn Höcke läuft ein Parteiausschlussverfahren, aber er turnt munter im Wahlkampf der AfD in Baden-Württemberg herum. Das politische Koordinatensystem, das jahrzehntelang nach links driftete, verschiebt sich inzwischen wieder nach rechts. Die drei linken Parteien kamen zuletzt nur noch auf 39 Prozent. Gegen die Union geht gar keine Regierungsbildung mehr. Sie ist jetzt, obgleich viel größer und ökumenischer, in der Rolle der „Zentrumspartei“ der Weimarer Republik angekommen: Sie muss sich nach links und rechts abgrenzen.
Es gibt Christen, die sich mit Positionen der AfD identifizieren können – und sich dort besser aufgehoben fühlen als in den etablierten Parteien. Die Kirchen erklären, dass die AfD nicht für das christliche Menschenbild steht, sondern ihm zuwiderläuft. Müssten sie aber nicht viel stärker den Dialog und die Auseinandersetzung suchen – sowohl mit der AfD als auch mit den Menschen, die mindestens mit der Partei sympathisieren oder sich von ihr repräsentiert fühlen?
Püttmann: Ein Christ muss natürlich stets bereit sein, nicht nur, wie die Heilige Schrift sagt, „jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch“ erfüllt, sondern auch für seine ethischen Überzeugungen im politischen Raum einzutreten. Also wird es Dialog auch mit AfD-Abgeordneten geben, wenn sie zum Beispiel bei Katholischen Büros in den Ländern oder in Berlin anklopfen. Eine Kirche muss aber nicht jederzeit das Gespräch aller mit allen über alles organisieren. Für sie ist nicht alles diskutabel – und deshalb auch nicht jeder, der immer wieder moralisch Indiskutables von sich gibt. Eine Kirche muss, ja darf nicht einmal jedem ein Podium bieten und damit neue Räume der Agitation eröffnen. Man unterschätze nicht die demagogische Verführbarkeit der Leute! Also war es richtig, AfD-Politiker beim Katholikentag, mit einer – relativ unbedeutenden – Ausnahme auch beim Evangelischen Kirchentag, außen vor zu lassen. Wenn sich die Partei doch noch von ihren rechtsradikalen Kräften trennen sollte, kann das anders werden. Ich zweifle aber daran, dass sie es schafft. Übrigens weist die christliche Schwarmintelligenz deutlich weg von der AfD. Kirchennahe Christen sind unter ihren Wählern signifikant unterrepräsentiert. Die Früchte des Christentums sind ja auch Nächstenliebe, Demut und Gelassenheit, den Rechtspopulismus kennzeichnet jeweils das Gegenteil: Empathielosigkeit, Hybris, Daueraufgeregtheit.
Wie politisch darf oder soll die Kirche überhaupt auftreten – wie unparteiisch muss sie sein?
Püttmann: Die politische Rechte verübelt den Kirchen ihren Einsatz für Flüchtlinge und gegen Fremdenfeindlichkeit sowie ihre positive, kooperative Haltung zu unserer Demokratie. Also versucht man seit einiger Zeit, politisch-ethische Positionierungen der Kirchen als klerikale Einmischung zu brandmarken. Innerkirchlich stimmen jene Kreise ein, die früher auf Gehorsam und Loyalität gegenüber der Hierarchie pochten, nun aber grobe Papst- und Bischofskritiker hervorbringen. Sie schmähen AfD-kritische Oberhirten als „parteipolitische Gouvernanten“ – so Pater Wolfgang Ockenfels – oder „knallroter Populist“, so Martin Lohmann über Kardinal Woelki. Sollten Bischöfe etwa nicht vor völkischem Nationalismus, Rassismus und Wohlstandsegoismus warnen? Sollen sie schweigen zur Verleumdung unseres demokratischen Rechtsstaats als Unrechtsregime? Die katholische Kirche behält sich durchaus vor, „auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen“, so das Zweite Vatikanische Konzil. Dass man damit die Geister scheidet, liegt in der Natur der Sache. Politische Positionierungen der Kirche sollten dabei an sachlichen Kriterien, nicht an ideologischen Parteipräferenzen ausgerichtet sein. Der große Sozialethiker Joseph Kardinal Höffner betonte, nicht die Kirche bestimme ihre Nähe zu einer Partei, sondern: „Die politischen Parteien bestimmen selber durch Programm und Praxis ihre Nähe oder Distanz zur Kirche“. Warnungen vor einer Partei werden die Ausnahme bleiben. Für die der Bischöfe in den Zwanziger- und Dreißigerjahren vor der NSDAP sind wir aber heute dankbar, oder? Manche hätten sie sich sogar noch deutlicher gewünscht.
Vorausgeblickt: Es ist der 25. September 2017. Deutschland hat gut gewählt, wenn…
Püttmann: … die radikalen Randparteien schwach abschneiden, sodass nicht wieder eine Große Koalition geschlossen werden muss, um eine stabile Regierung zu haben. Auch eine Dreierkoalition würde schwierig, zumal CDU/CSU ja schon selbst wie zwei zerstrittene Koalitionäre erschienen und Schwarz-Gelb-Grün dann quasi ein Viererbündnis wäre. Die SPD wird es rechnerisch nicht mal mit zwei kleinen Partnern zusammen schaffen. Also hielte ich Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün für das derzeit Beste. Die linken Basisgrünen müssten dann allerdings eine erhebliche Frustrationstoleranz aufbringen, und ein Dauerfingerhakeln mit der CSU bei der Inneren Sicherheit und der Migrationspolitik wäre programmiert.