Ökumene und die Zukunft der Kirchen: „So haben wir reformatorisch nicht gewettet“

Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au und ZdK-Präsident Thomas Sternberg im Gespräch über die Ökumene und die Zukunft der Kirchen

Papst? Gemeinsames Abendmahl? Frauen als Priesterinnen? Auch 500 Jahre nach der Reformation gibt es noch immer deutliche Unterschiede zwischen Evangelisch und Katholisch. Wo sieht’s momentan aus in der Ökumene? Wie gut oder schlecht können die beiden großen christlichen Kirchen miteinander? Fragen, die zwei Experten beantworten: Christina Aus der Au, Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentags, Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au und ZdK-Präsident Thomas Sternberg im Gespräch über die Ökumene und die Zukunft der Kirchen

Thomas Sternberg (l.) und Christina Aus der Au (r.) im Dialog via Skype. Foto: Gerd-Matthias Hoeffchen

Aus der Au und Sternberg unterhielten sich auf Einladung des Ökumene-Magazins „ÖM“, das anlässlich des bundesweiten Ökumenischen Festes der beiden Kirchen unter dem Motto „Wie im Himmel, so auf Erden“ am 16. September in Bochum gemeinsam von der evangelischen Zeitung „UK – Unsere Kirche“ in Bielefeld und der unabhängigen katholischen Wochenzeitung „Neues Ruhr-Wort“ in Gelsenkirchen herausgegeben wird. Das Magazin erschien am 2. September als Beilage der herausgebenden Zeitungen sowie als Verteilblatt in Kirchengemeinden. Es wird darüber hinaus an die Teilnehmer des Ökumenischen Festes verteilt. Das Interview erschien dort in einer gekürzten Fassung.

Hier das Interview in voller Länge.

Er fordert unter anderem die Aufhebung der Zölibatspflicht in der katholischen Kirche. Sie sagt das Reformationsjubiläum gehöre nicht allein den Protestanten, sondern müsse mit den Katholiken als gemeinsames Christusfest gefeiert werden. Professorin Dr. Christina aus der Au, evangelisch-reformierte Theologin und Philosophin aus der Schweiz, ist Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentages im Jahr des Reformationsgedenkens. Professor Dr. Thomas Sternberg, Theologe und CDU-Politiker, ist Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), des höchsten Gremiums, das die katholischen Christinnen und Christen in Deutschland vertritt. Sie gehören zu den Veranstaltern des bundesweit zentralen Ökumenischen Festes, das am 16. September in Bochum stattfindet. Im Gespräch unternehmen beide eine Standortbestimmung für die Ökumene in Deutschland, lenken den Blick auf die Problematik des katholischen Weltkirche-Konzepts und entwerfen ihre Visionen einer Einheit der Kirchen.

• Professorin Aus der Au, Professor Sternberg, wo steht – jeweils aus Ihrer Sicht – die Ökumene?

Aus der Au: Ich antworte mal von der Gegenseite her. Ich habe mir von den katholischen Schwestern und Brüdern sagen lassen, dass dieses Reformationsjahr mehr zur Ökumene beigetragen hat, als vieles viele Jahre vorher. Das ist auch so, weil wir gerade nach anfänglichen Startschwierigkeiten wirklich bewusst mit den Fragen umgegangen sind: Wie geht das, etwas zu feiern, was eine Spaltung herbeigeführt hat? Was haben wir für ein Verhältnis zueinander, 500 Jahre nach der Reformation? Was ist schon erreicht? Was ist noch zu tun? Wir sind wirklich gut unterwegs, nicht nur auf der Ebene der Laien und der Gemeindeglieder. Sondern auch auf der Ebene der Amtskirchen, die gerade für dieses Jahr einige sehr schöne, in ihrer Symbolkraft wirklich starke Gelegenheiten zusammen erdacht und zusammen durchgeführt haben. Mit diesem Rückenwind können wir jetzt zusammen noch mal ein Stück weiter segeln.

Sternberg: Ich kann da sehr gut anschließen: Es ist für mich eine wirklich und erfreulich überraschende Feststellung, dass die evangelische Kirche in Deutschland das große Jubiläum – 500 Jahre Reformation – zusammen mit der katholischen Kirche feiert. Diese Jahrhundertfeiern waren immer Identitätsbeschreibungen und Standortbestimmungen des Evangelischen. Dass man hier einen so starken, klaren Akzent auf die Ökumene setzt, das finde und fand ich nicht erwartbar. Dafür bin ich außerordentlich dankbar. Denn das hat eine ganz bedeutende Wirkung. Auch wenn man vielleicht als Theologe sagen mag: Das, was im März im gemeinsamen Gottesdienst zur „Heilung der Erinnerungen“ in Hildesheim gesagt worden ist, ist doch eigentlich Stand der Dinge gewesen in der Theologie. Aber wenn das in einem offiziellen Akt auch noch rituell in einem Gottesdienst formuliert wird, und dieser Gottesdienst auch von weiteren Gemeinden gefeiert wird – dann bekommt das einen Status, hinter den man nicht mehr zurückfallen kann.

• Was meinen Sie damit?

Sternberg: Es ist ganz viel passiert in diesem Jahr. Die Ökumene ist immer schon vor allem in den Gemeinden gewachsen. Die Gemeinden haben miteinander gearbeitet, sie haben gemerkt: Uns verbindet mehr, als uns trennt. Im Grunde genommen sind die Theologie und auch die Kirchenleitungen diesen Entwicklungen nachgelaufen. Das ist auch nicht das Schlechteste. Meine Sorge ist aber, dass über der Vorstellung, unser ganz großes Problem seien die interreligiösen Dialoge, der Eindruck entsteht, dass man sich um die Ökumene nicht mehr zu kümmern brauche, die laufe doch. Das halte ich für einen ganz großen Irrtum. Wir sollten uns davor hüten zu sagen: „Die Ökumene klappt doch ganz gut, das ist doch alles bestens. Wir haben uns mit der versöhnten Verschiedenheit so abgefunden, dass eigentlich alles okay ist.“ Wir sollten uns aber darüber im Klaren darüber sein: Es gibt Stufen der Ökumene, die noch nicht erreicht sind. Da gibt es noch eine Menge weiterer Arbeit. Und die lohnt nach wie vor den vollen Einsatz, auch auf der Gemeindeebene. Es gibt noch so viele unterschiedliche Mentalitäten, so viele unterschiedliche Vorstellungen übereinander, dass es sich lohnt, an der Einheit, an der Gemeinschaft der Christen intensiv weiterzuarbeiten.

• Was ist denn aus Ihrer Sicht das Ziel der Ökumene?

Sternberg: Das Ziel der Ökumene ist für mich, dass wir insofern eine Einheit haben, dass wir die zentralen Vollzüge des Christlichen auch gemeinsam feiern können. Das ist natürlich auch die Abendmahlsgemeinschaft. Die kann man aber nicht mal eben mit einem Federstrich verwirklichen. Ich weise mal darauf hin, dass die „Leuenberger Konkordie“ – der Beschluss über die Kirchengemeinschaft zwischen den verschiedenen evangelischen und einigen vorreformatorischen Kirchen – auch noch nicht so wahnsinnig lange zurück liegt. 1973 wurde der gefasst und dafür waren auch erhebliche Schritte zu gehen. Auch in der Ökumene werden jetzt noch einige Schritte zu gehen sein, um das in eine offizielle Form zu bringen, was in den Gemeinden schon in großer Zahl passiert und wozu wir jetzt auch in der katholischen Kirche eine Reihe von Impulsen haben, die aufzugreifen wichtig ist. Unser gegenwärtiger Papst Franziskus setzt ganz wichtige Impulse. Aber man sollte eben nicht so tun, als wäre schon alles klar zwischen den Kirchen.

• Professorin Aus der Au, wie beurteilen Sie das? Es gibt ja verschiedene Zielvorstellungen von der Ökumene. Plädieren Sie für versöhnte Verschiedenheit oder wünschen Sie sich eine Kirchengemeinschaft?

Aus der Au: Ich freue mich, dass Herr Sternberg gleich den Finger auf die offenste aller Wunden gelegt hat. Ich glaube auch, von wirklich versöhnter Verschiedenheit können wir so lange nicht sprechen, als wir nicht wirklich in diesen zentralen Vollzügen des christlichen Lebens das „Gemeinsam“ feiern können. Wie können wir versöhnt sein, wenn wir beim Abendmahl noch getrennt sind? Ich sehe das allerdings nicht isoliert. Zentral beim Abendmahl ist ja auch das Amtsverständnis des Priesters. Daran hängt die Frage: Wer darf Priester sein – und wie ist das mit den Frauen? Und was ist überhaupt eine Kirche? Und nicht nur eine kirchliche Gemeinschaft? Das klingt alles sehr theologisch und ist auf Gemeindeebene sehr häufig nicht nachvollziehbar, aber wir dürfen nicht einfach darüber hinweggehen. Andererseits dürfen wir uns auch nicht bei Dogmatiken aufhalten, die so nicht oder nur sehr schwer gelebt werden können. Insofern ist es wirklich meine Sehnsucht, dass wir eine versöhnte Verschiedenheit haben – auch mit all diesen Dingen, die uns noch unterscheiden. Als Reformierte bin ich ja auch Teil einer innerprotestantischen Ökumene und stehe Einheitsbemühungen ein bisschen skeptisch gegenüber. Die Ökumene ist für mich nicht erst dann erfüllt, wenn wir eine homogene Einheit der Kirchen haben.

• Was in den Gemeinden schon seit Jahrzehnten passiert und sich dort entwickelt hat sowie die Fortschritte, die jetzt durch das gemeinsame Reformationsgedenken als „Christusfest“ in Gang gesetzt worden sind, sind Entwicklungen in unseren deutschen Kirchen. Auch wenn Sie die Impulse von Papst Franziskus schon angesprochen haben: Welche Impulse können denn jetzt von all dem ausgehen – mit Blick auf die Weltkirche?

Sternberg: Das ist sehr kompliziert und sehr komplex. Ich maße mir gar nicht an zu sagen, was in anderen europäischen Ländern, auch unter unseren katholischen Mitchristen, passiert. Auch da gibt es ökumenische Bewegungen. Das macht diese ökumenische Frage nicht leichter. Die protestantischen Kirchen sind zudem landeskirchlich organisiert. Wir haben katholischerseits ein weltkirchliches Selbstverständnis. Diese Unterschiede müssen wir wahrnehmen. Ich habe manchmal den Eindruck, Katholiken können das kaum verstehen, wenn sie merken, dass eine weltkirchliche Aktivität der evangelischen Kirche in der Regel eine ökumenische Aktivität ist – zwischen verschiedenen Kirchen. Das ist für ein katholisches Selbstverständnis gar nicht nachvollziehbar, weil wir sagen: „Ob die Gemeinde in Indonesien ist oder in Frankreich, ist völlig egal, es ist alles unsere gemeinsame Kirche.“ Das ist anders gedacht. Und es geht um Bereiche, die Ekklesiologisches und das Ämterverständnisses und vieles mehr betreffen. Da gibt es sowohl theologische als auch Mentalitätsunterschiede, an denen wir weiter arbeiten sollten, auf eine freundschaftliche und gute Weise.

• Wie kann das aussehen?

Sternberg: Das kann man tun, indem man gemeinsam Gottesdienste feiert und viel gemeinsam macht. Wir dürfen nicht sagen: „Es gibt gar keine Unterschiede und wir tun jetzt einfach so, als wäre alles in Ordnung.“ Das nicht. Aber ich bin eben sehr dankbar dafür, dass wir in diesem Jahr 2017 wichtige, große Schritte machen. Und diese Schritte sind neu. Ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass wir 2003 und 2010 zwei große Ökumenische Kirchentage veranstaltet haben. Seitdem haben sich auch die evangelischen Kirchentage und die Katholikentage verändert. Wir haben eine selbstverständlichere Ökumene erreicht, auch auf einer anderen Ebene als der gemeindlichen. Das bedeutet auch, dass wir miteinander arbeiten. Dann kommt am ehesten Gemeinschaft zustande. Es wird aber auch deutlich, wo es noch Trennendes gibt und wo wir weiter arbeiten müssen. Einfach miteinander unseren christlichen Dienst tun – das ist der Weg.

Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au und ZdK-Präsident Thomas Sternberg im Gespräch über die Ökumene und die Zukunft der Kirchen

Christina Aus der Au. Foto: Hoeffchen

Aus der Au: Sie haben die Weltkirche angesprochen. Das ist wirklich ein spannender Unterschied, dadurch, dass wir viel fragmentierter sind. Auf der anderen Seite sind es jedoch gerade katholische Theologinnen und Theologen, die uns für den Kontext sensibel gemacht haben: mit den befreiungstheologischen und mit den feministisch-theologischen Ansätzen. Die haben uns sensibel und aufmerksam gemacht dafür, dass – je nachdem, wo Gemeinden und Kirchen sind, wovon sie geprägt sind, von welchen Erfahrungen und Umwelten – sich unterschiedliche Verständnisse von Theologien entwickeln.

Davon haben die Protestanten sehr viel gelernt. Wir schlagen uns eben auch schon mit sehr viel Unterschiedlichkeit herum in den protestantischen Kirchen. Deswegen ist Ökumene auch eine innerprotestantische Herausforderung, eben auch in ganz dogmatischen Fragen, wo wir überhaupt nicht vom Konsens ausgehen können. Sei es in Fragen des Frauenpriestertums, sei es bei der Stellung zu Homosexualität oder anderes. Da haben wir unter den Protestanten und Protestantinnen einen sehr großen Dissens. Aber es gilt eben, achtsam und sensibel zu sein, wenn man Weltkirche ist. Für die Ausprägungen des Katholizismus und für die Ausprägungen des Christentums. Das habe ich zumindest sehr stark von katholischen Kollegen gelernt.

Sternberg: Da haben Sie natürlich auch Recht! Denn bei aller weltkirchlichen Orientierung der katholischen Kirche wissen wir, dass Katholiken in Deutschland nicht so ticken wie Katholiken in Frankreich, in Spanien, in Polen oder in Ungarn. Ich erlebe das im Moment, wo ich zum Beispiel Besuche in der Slowakei mache. Da stellt man plötzlich fest: die Art der Frömmigkeit, die Art des gottesdienstlichen Lebens ist ganz anders als bei uns! Wir sollten uns auch als Katholiken davor hüten, zu glauben, dass allein die Tatsache einer universalen Kirche bereits eine totale Gemeinschaft des Denkens und Handelns bedeutet. Das können wir im Moment ganz gut erleben an unserem Papst, den ich sehr verehre. Da kommt jemand aus Südamerika und der tickt anders. Der blickt anders auf die katholische Kirche. Und das merken ja einige ganz schmerzlich, dass da jemand ist, der nicht aus dieser ureuropäischen Tradition kommt, sondern die Kirche anders sieht. Ich finde, dass uns das sehr, sehr gut tut.

• Gibt es Wünsche und Erwartungen an dieses Jahr des gemeinsame Reformationsgedenkens und Christusfestes, die sich noch nicht erfüllt haben? Wo wünschen Sie sich noch einen Schub nach vorne

Aus der Au: Ich beginne mit dem, was sich erfüllt hat. Das ist, dass wir auch danach miteinander im Dialog bleiben. Dass man sich nicht beleidigt oder trotzig voneinander abwendet. Der Umgang mit der Reformation und das Gedenken daran haben zudem ganz viel Gegenwartsbezug: Wie gehen wir heute mit biblischen Texten um – angesichts der säkularisierten Gesellschaft, angesichts der politischen Herausforderungen, auch der geografisch-politischen Herausforderungen? Das sind Herausforderungen, die uns als Christinnen und Christen betreffen. Und wir stehen gemeinsam hier und sagen: „Jawohl, das geht uns alle etwas an. Egal, welcher Herkunft, egal welcher Konfession wir sind. Dafür stehen wir auch zusammen ein für unsere gemeinsame Tradition.“ Und das tun wir nicht nur im stillen Kämmerlein – Gespräche unter vier oder sechs Augen waren ja immer möglich –, sondern wir tun es auch nach außen.

Sternberg: Wenn ich Defizite nennen soll: Ich hüte mich natürlich sehr davor, unsere evangelischen Geschwister zu beurteilen, aber ich bin manchmal etwas erstaunt darüber, auf welch oberflächlichem Niveau die Persönlichkeit Martin Luther gelegentlich abgehandelt wird. Das scheint mir teilweise etwas zu flapsig, zu locker. Martin Luther war nicht nur der Judenhasser und der Bauernhasser und nicht nur der Kirchenreformer. Das war ein hochspiritueller Mensch mit großen theologischen Fragen. Und ich frage mich manchmal, ob seine Grundfrage der Theologie uns nicht – ob evangelisch oder katholisch – gleichermaßen abhanden zu kommen droht. Nämlich die Frage: Wie finde ich einen gnädigen Gott? Ich brauche einen gnädigen Gott nur dann, wenn ich ein Verständnis davon habe, dass ich sündig bin oder schuldig. Nun will ich den Leuten keine Schuldkomplexe einreden – das haben wir auch lange genug gehabt in der Kirche –, aber die Vorstellung von einer totalen Schuldlosigkeit, zumindest eigener Schuldlosigkeit, könnte auch eine Gefährdung in der Gegenwart sein. Und vielleicht hat uns da Luther etwas sagen: Wie bringe ich meine eigene Fehlbarkeit und Unvollkommenheit in ein Gottesverhältnis? Da sind wir sehr tief in der Theologie. Und da wird es sehr ernsthaft. Aber ich glaube, Reformation und Martin Luther sind ohne diese Ernsthaftigkeit nicht zu haben.

Aus der Au: Absolut einverstanden. Gerade ohne Luthers Spiritualität geht es nicht. Darüber gab es ja auch eine Diskussion. Und die Frage nach dem gnädigen Gott wäre ein super Einstieg für eine heiße theologische Diskussion, die ich sehr gerne führen würde. Ich glaube tatsächlich, diese Frage stellt sich so dem Menschen nicht, wenn er nicht gerade kirchlich aufgewachsen ist. Sie stellt sich dem säkularisierten Menschen so nicht mehr. Ich weiß nicht, ob wir da immer zuerst mit Sünde und Schuld kommen müssen. Auf protestantischer Seite ist Ihr Anliegen mit aufgenommen in der Diskussion über Freiheit. Martin Luther ging es auch um die Frage: Wie kann ich befreit sein von meiner Angst? Und Freiheit ist ein Stichwort, mit dem wir, glaube ich, verständlicher sind heute. Dann können wir auch darüber reden: Was bindet uns denn? Was wäre denn Freiheit? Wovon möchten wir gerne frei sein und wovon sind wir es nicht? Was eröffnet mir Freiheit?

Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au und ZdK-Präsident Thomas Sternberg im Gespräch über die Ökumene und die Zukunft der Kirchen

Thomas Sternberg. Foto: Hoeffchen

Sternberg: Auch sehr gerne zugestanden, zumal ich ja von Hause aus Alt-Kirchenhistoriker bin. Die ganze jesuanische Verkündigung der frühen Kirche war die Verkündigung des Lichtes in die Dunkelheit. Das ist eine befreiende Botschaft, ganz ohne Frage. Es geht für mich auch nicht um das Kleinmachen, sondern darum, dass man als Mensch grundsätzlich der Gnade bedürftig ist. Dass ich als Mensch getragen werde von etwas, was ich nicht bin. Dass ich nicht alles selber machen muss und selber machen kann. Das gehört für mich zu so fundamentalen, religiösen Erfahrungen, dass eben der Mensch gerade nicht seines Glückes Schmied ist.

Er ist damit auch nicht für alles verantwortlich, was ihm widerfährt. Sondern er weiß sich aufgehoben in der Gnade Gottes. Das sind eigentlich Themen, die in der Reformation intensiv diskutiert worden sind. Und die sollten nicht unter so einem einfachen Sündenthema diskutiert werden. Aber ich gehe es noch mal von der anderen Seite an: In der Passionsgeschichte ist die Grundstruktur immer die: „Du leidest, weil ich gesündigt habe. Meine Sünden lassen dich leiden.“ Heute ist das schwer nachzuvollziehen. Heute verstehen wir die Passionsgeschichte anders. Heute sagen wir: „Da ist ein Leid, das das ganze Leid widerspiegelt, auch das des Menschen – und auch mein eigenes Leid. Da hat jemand, wie wir, gelitten.“

Das ist heute eher die Frage. Aber dann kam mir ein Text in die Hände, in dem stand zu einer Station des Kreuzweges: „Jesus du fällst auf deinem Weg. Sie haben dich niedergestreckt, es gelingt ihnen, den Politikern, den Machthabern, den Wirtschaftsführern in dieser Welt. Sie bringen dich zur Strecke.“ Da passiert jetzt etwas: Aus der Vorstellung „Meine Sünden haben dich geschlagen“ wird plötzlich: „Jesus und ich, wir zwei Gerechten, wissen wo die Bösen sitzen“. Da ist ein ganz falscher Ton drin. Müssen wir nicht auch so etwas in einer anderen Art und Weise diskutieren können? Die Vorstellung: „Ich bin eigentlich super, wenn nur die schrecklichen Verhältnisse der Welt anders wären, dann wäre es doch ganz wunderbar“ – so haben wir theologisch und reformatorisch nicht gewettet.

• Aber es ist sehr bezeichnend für die Zeit, in der sich der Mensch selber gerne in den Mittelpunkt stellt – als optimaler Mensch sozusagen.

Sternberg: Ja! Auch mit der Aufforderung, sich selber zu optimieren! Das führt ja auch zu einem Selbstoptimierungszwang, unter dem die Menschen leiden, ohne es artikulieren zu können.

Aus der Au: Was aber auch wiederum heißt, dass der Mensch sich heute schon bewusst ist, dass er noch nicht optimiert ist. Deswegen gibt es bei vielen ja diesen ständigen Drang zur Selbstoptimierung. Bei dem Thema bin ich einig mit Ihnen. Die Frage ist: Wer macht mich denn besser? Nicht ich selber. Das kann eben Stress und Zwang bedeuten – oder ich kann mich auch fallen lassen und sagen: „Das ist nicht meine Sache. Das muss nicht ich selber tun.“ Ich glaube, in der Sache sind wir überhaupt nicht so weit auseinander.

Ich sehe aber nicht die Menschen in ihrem Selbstbewusstsein. Auch die Säkularmenschen in meinem Umfeld sagen nicht: „Ich bin superperfekt und ich brauche keinen Gott“, aber auch nicht: „Ich habe Schuld auf mich geladen“. Das hat auch seine Geschichte. „Schuld und Sünde“ ist so dermaßen abgenutzt und es ist auch verballhornt worden. Es ist schwierig, mit diesen Themen die Menschen zu erreichen. Aber da ist auch dieses „Erbarme dich für die Welt“. In dieser Welt, in unserem Gesamtsystem komme ich mir selber abhanden. Dass wir da sagen können: „Da ist jemand, der stellt deine Füße auf weiten Raum.“ Bei dieser Zusicherung und diesem Ja, da sind wir uns auf jeden Fall einig.

Sternberg: Ich glaube auch, das sind wir nicht weit auseinander. Ich meine, das sind Themen, die gehören in ein Reformations-Jubiläumsjahr hinein. Das ist in vielen Büchern auch gut behandelt worden. Aber man muss aufpassen. Wenn man nach der langen „Luther-Dekade“ das Thema reduzierte auf den Hammer an der Schlosskirche, dann wäre das zu wenig. Und es ist auch nicht nur „Tralala“ und Luther ist nicht nur der fröhliche Zecher und der Lebemensch. Das wäre mir zu schwach. Ich glaube, man muss die Person Martin Luther ganz ernst nehmen. Und wenn man sie ganz ernst nimmt, sind wir mitten in der Kirchengeschichte und stellen fest, dass die Reformation auch noch andere Quellen und andere Richtungen hat. Und dass die Reformierten sich überhaupt nicht vereinnahmen ließen von diesem Luther. Aber mit Luther und seiner Zeit ist etwas angeschlagen, was uns heute berührt. Das hat etwas mit uns heute zu tun. Das muss in einem solchen Jahr erfahrbar werden.

• Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, ist, ob die Protestantinnen und Protestanten beim Reformationsjubiläum über all diesen ökumenischen Bestrebungen nicht zu viel protestantisches Profil aufgeben. Also: „Macht ihr nicht zu viel Ökumene und gebt dabei den reformatorischen Kern auf?“ Jetzt hören wir gerade von Ihnen das Gegenteil. Sie, Professor Sternberg, plädieren dafür das protestantische Profil zu schärfen. Insofern: Professorin Aus der Au, was ist dran an dieser Frage? Geben die Protestantinnen und Protestanten zu viel von ihrem Proprium auf, um sozusagen Ökumene zu ermöglichen?

Aus der Au: Was wäre das protestantische Profil, wenn man es nur dort erkennen würde, wo es gegen die Katholiken geht? Das ist ein Gegenprofil. Darum gebe ich keinen Deut. Und darum geht es mir nicht. Es geht darum, gemeinsam zu suchen und sich – wie gerade durch Herrn Sternberg – zum Beispiel daran messen zu lassen, „Wie redet ihr, wie reden wir denn heute von der Gnade, von Christus, von Gott?“. Was ja ein urprotestantisches, ein urchristliches Profil ist. Ich glaube, wir haben es nicht – jedenfalls nicht auf dieser theologischen Ebene – nötig uns voneinander abzugrenzen.

Es muss darum gehen, gemeinsam sich immer wieder herauszufordern, sich aus der eigenen Tradition heraus zu erinnern – an Strömungen von den Mystikern, Strömungen auch von den Kirchenvätern und dann aber auch wieder protestantische Erinnerungen. Dass wir da ein gemeinsames theologisches Profil finden. Vielleicht bin ich da als Reformierte auch ein bisschen empfindlicher – mir geht es schon darum, das Profil zu wahren, wenn es um die Organisation von Kirche geht. Da würde ich gerne auch mein reformiertes Profil schärfen und darüber streiten.

Sternberg: Ja, vielleicht war es das große Problem der Kontroverstheologie des 19. Jahrhunderts, die sich immer orientiert hat an Defiziten. Man sucht nach Defiziten bei den jeweils anderen Konfessionen und hat Angst, wenn man etwas übernimmt oder sich verändert, dass man da plötzlich evangelisch oder katholisch würde. Man könnte ganz anders herum denken. Man könnte einen Perspektivwechsel vornehmen und sagen: Lass uns doch mal vom Reichtum der jeweils anderen Tradition sprechen!

Was gibt es da für einen Reichtum, der zu entdecken ist und der uns vielleicht neue Impulse geben kann. Und der uns weiterhilft. Ich hatte beim Evangelischen Kirchentag in Wittenberg eine sehr schöne Aufgabe, die mir viel Spaß gemacht hat. Ich habe eine Bibelarbeit gemacht zur Heimsuchung, zu Maria. Und auch da kann man plötzlich feststellen: wir müssen gar nicht so weit auseinander sein. Ich habe wesentlich die großartige Magnificat-Auslegung von Martin Luther benutzt. Da gibt es so viele Gemeinsamkeiten, da gibt es so viel, was man gemeinsam tun kann!

Aus der Au: Ja, aber da war Luther auch typisch Katholik, nicht wahr?

Sternberg (lacht): Natürlich. Aber man kann eben auch merken, was überdeckt und überlagert worden ist durch Sorgen, Ängste oder auch missbräuchliche Voekommnisse, die dann zu Entfremdungen geführt haben. Die aber gar nicht sein müssen. Dann kann man plötzlich feststellen: Damit kannst du ganz offen umgehen! Und so gibt es auch protestantische Traditionen, die wir im katholischen Bereich aufgenommen haben. Wenn Sie mal an unsere Gottesdienste denken: Die liturgische Erneuerung hat in Deutschland mit ihren stark liedbetonten Elementen in der Eucharistiefeier ein evangelisches Gottesdienstelement aufgenommen.

Das gibt es in anderen europäischen Ländern so nicht. Auf der anderen Seite gibt es heute eine Menge evangelischer Gemeinden, für die beispielsweise die Osterkerze als Symbol nichts Ungewöhnliches mehr ist. Es gibt also Dinge, die in einer selbstverständlichen Art und Weise übernommen worden sind. Und wenn man das macht: die jeweils andere christliche Kirche vom Reichtum her zu verstehen, zu fragen: „Was können wir als Reichtum betrachten, was kann ich daran sehen lernen, was kann ich mitnehmen?“ – dann ist Ökumene leichter, als wenn man immer nur fragt: „Wo hakt noch etwas? Wo ist das Problem?“ Auch wenn wir uns völlig einig sind, dass die Probleme bearbeitet werden müssen.

• Die Frauenordination ist auf jeden Fall noch eines dieser Themen, die auf dem Plan stehen. Das muss man sicherlich noch als trennend ansehen. Möglicherweise auch Lehre oder Handeln. In Deutschland gibt es ja eine große Sozialethik mit Landesbischof Heinrich Bedford-Strom und Kardinal Reinhard Marx als Repräsentaten. Auf der anderen Seite gibt es eben strittige Themen wie aktuell etwa die „Ehe für alle“. Wo liegen die größten Unterschiede – und wie kann man damit umgehen?

Sternberg: Ich fange mal an bei der Frage der Frauenordination. So schrecklich lange gibt es die in den evangelischen Kirchen auch noch nicht. Ich glaube, die letzte Landeskirche in Deutschland, die sie eingeführt hat, war die Lippische Landeskirche. Das war, glaube ich, erst in den 80er-Jahren.

Sogar erst in den 90ern.

Sternberg: Es ist also nicht so, als wenn die evangelische Kirche seit ihrem Beginn den weiblichen Pfarrer gekannt hätte. Auch wenn es da gewisse, auch zeitliche Differenzen gibt – übrigens auch mit anderen Religionen –, sehe ich das nicht als etwas grundsätzlich Kirchentrennendes. Damit kann man leben. Die Frage, die man sich dazu stellt, ist völlig klar, aber das ist nicht fundamental. Fundamental wäre es dann, wenn es eine grundsätzlich andere Wesensbestimmung der Frau gäbe. Das wäre wirklich kirchentrennend.

Aus der Au: Und wie ist es mit einer grundsätzlich anderen Wesensbestimmung des Priesters?

Sternberg: Da sind wir bei der Ämtertheologie. Das ist schon eine sehr wichtige Sache.

Aus der Au: Da kommt noch ordentlich viel zusammen.

Sternberg: Ja! Und bei der Ämtertheologie wird es ganz schwierig. Da gibt es sperrige Traditionen und Auffassungen, über die zu streiten ist.

• Was ist denn die Botschaft von all dem? Heißt das, auch in der katholischen Kirche können wir noch hoffen oder…?

Sternberg: Einer der Grundsätze des Katholischen ist „Ecclesia semper reformanda“ – die Kirche muss sich immer erneuern.

Aus der Au: Und hoffen kann man immer…

Sternberg: Auch das. Ich glaube aber, die Fragen, die uns unter Einheitsgesichtspunkten beschäftigen, sind vor allem die: wie man wirklich miteinander den Glauben lebt; wie man miteinander deutlich machen kann, dass man den gleichen Glauben hat; und dass man möglichst weit dahin kommt, das auch im gottesdienstlichen Feiern gemeinsam zu praktizieren. Viele gemeinsame Gottesdienste sind möglich und sollten zur Normalität werden. Es bleibt natürlich – und das finde ich wirklich eine Wunde – die Tatsache, dass es immer noch Paare gibt, die konfessionsverbindend leben, die aber nicht gemeinsam zur Eucharistie gehen.

Da gibt es zwar längst eine veränderte Praxis in den Gemeinden vor Ort, aber es ist nicht offiziell. Diese Paare leben noch so, wie in der Zeit, als von „Mischehen“ gesprochen wurde und in der das zum Teil zur Enterbung des jeweils anderen Partners geführt hat. Da sind drängende Aufgaben! Das wäre für mich ein erster, wichtiger Punkt, dass konfessionsverbindende oder konfessionsverschiedene Ehen und Familien jeweils zum Abendmahl und zur Eucharistie hinzutreten.

• Kommen wir aber auch noch einmal zurück auf die Frauenordination. Professorin Aus der Au, wie ist Ihre Meinung zu diesem Thema?

Aus der Au: Ich sehe das tatsächlich in einem größeren Kontext, nämlich in dem der Ämtertheologie. Es geht ja nicht darum, dass wir Protestanten einfach ein bisschen schneller gewesen sind. Und es gibt ja auch einen innerlutherischen Streit, welche Kirchen in welchen Ländern sich noch gegen die Frauenordination sträuben. Aber wenn ich jetzt doch ein bisschen zuspitzen darf: Ich sehe in der katholischen Tradition doch einen Essentialismus: Frau ist so. Mann ist so. Und das hat dann auch zu tun mit der Haltung gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder auch der Ehe für alle. Es geht auch um: Ehe ist so. Verheiratet ist so. Geschieden ist so und so weiter…

Auf protestantischer Seite sind wir weniger essentialistisch. Man könnte sagen, wir haben uns dem Zeitgeist angeglichen, oder man kann sagen, wir sind hier relationaler unterwegs. Geht es nicht um die Interaktionen, die Beziehungen untereinander? Mehr als um die sogenannte Essenz von etwas. Da sehe ich schon manchmal – gerade in der Ethik – Unterschiede. Zum Beispiel bei der Frage nach der Würde des Menschen und wann menschliches Leben beginnt.

Sternberg: Das ist ja alles nicht ganz falsch. Wobei ich vorsichtig damit bin, grundsätzliche Unterschiede bei den ethischen Haltungen zu postulieren. In den ethischen Standpunkten und Stellungnahmen liegen die Kirchen so weit nicht auseinander. Wo es doch so ist, sind es immer wieder Stellungnahmen, die keineswegs einheitlich in der jeweiligen Kirche gesehen werden. Es sind ja Mehrheitsfragen, die da postuliert werden. Wir hatten zum Beispiel bei der Abstimmung der sogenannten Ehe für alle ZdK-Mitglieder und überzeugte katholische Abgeordnete im Bundestag, die anders abgestimmt haben. Und dagegen ist auch gar nichts zu zu sagen.

Das wird nicht vom Glauben vorgegeben, wie man in solchen Fragen entscheidet. Ein etwas stärkeres essentialistisches Denken – wahrscheinlich haben Sie Recht – ist aber auch eine Frage, über die man diskutieren kann. Oder über das Thema, welche Rolle naturrechtliche Ansätze im katholischen Denken spielen. Da gibt es zwar erhebliche Veränderungen, aber es findet sich tatsächlich noch in vielen Bereichen und ist vielleicht auch nicht so falsch, wie man heute allgemein glaubt. Da gibt es also schon noch Einiges, über was sich zu diskutieren und zu streiten lohnt.

• Frau Aus der Au hatte schon das Thema Würde und Wesen des Menschen angesprochen. Wo gibt es denn unterschiedliche Auffassungen in der Ethik, die den Kirchen den Dialog oder ökumenische Positionen erschweren?
Sternberg: Ich sehe keine grundsätzlichen Unterschiede in den ethischen Positionierungen. Wenn – dann am ehesten in den Formulierungen, in einem etwas anderen Denken und einer anderen Denktradition. Aber wenn Sie gerade an das Thema Lebensschutz denken – da machen die evangelische und die katholische Kirche seit Jahren gemeinsam die „Woche für das Leben“, um genau diese Lebensschutzfragen zu diskutieren. In den Fragen vom Anfang und Ende des Lebens, von der Menschenwürde und des Lebensschutzes treten die katholische und die evangelische Kirche gemeinsam auf. Und da sollte man sich auch nicht irgendwie auseinander dividieren lassen!

Das versucht man sonst auszunutzen, indem man sagt: „Ach Gott, eine christliche Position… Die kann man ja gar nicht so erkennen. Da sind auf der einen Seite diese erzkonservativen Bischöfe, die haben ihre Position und die Katholiken glauben das alle und finden das alles richtig. Und bei den Evangelischen ist das viel bunter. Und christlich ist das sowieso alles nicht, das ist alles so offen.“ So einfach ist es nicht! Es gibt auch da grundsätzliche Gemeinsamkeiten. Gerade was die Menschenwürde angeht. Nehmen Sie etwa die Flüchtlingsfrage. Ich wüsste nicht, dass da die evangelische und die katholische Kirche besondere Unterschiede gemacht hätten.

• Das sind gute Stichwörter. Wenn wir auf die Gesellschaft schauen, repräsentieren beide Kirchen zusammengenommen fast zwei Drittel der Gesellschaft, zumindest nominell und numerisch gesehen. Für viele Menschen, die mit Kirche und Konfession nichts zu tun haben, ist es aber eigentlich nicht mehr nachvollziehbar, warum man zwei Kirchen hat, zwei Haushalte sozusagen. Müssten die Kirchen heute nicht viel stärker bei bestimmten Themen mit einer Stimme sprechen?
Aus der Au: Die eine christliche Position zu benennen – das finde ich ganz schwierig. Auch zu sagen: „Wir sind dann überzeugend, wenn wir uns alle einig sind“ – und das ist dann DIE christliche Position: das würde ja implizieren, alle anderen sind nicht-christliche Positionen? Ich glaube auch, die Übereinstimmung, gerade in der Flüchtlingsfrage, ist nicht säkular. Das könnte man sonst letztlich auch mit Kant begründen, dass Menschen nicht instrumentalisiert werden dürfen, sondern dass Menschen immer auch einen Zweck an sich selber und eben damit auch Würde und Wert haben. Wofür wir aber gemeinsam einstehen – auch wenn es manchmal vielleicht zu unterschiedlichen Positionen führt –, ist die Art des Argumentierens. Dahinter steht ein bestimmtes Bekenntnis darüber, dass nicht der Mensch der Maßstab aller Dinge ist und dass wir im Horizont eines Größeren stehen, der den Menschen Boden gibt. Dass wir verantwortlich sind. Dass wir mit unserer Position antworten auf eine Anrede, von der wir bekennen, dass es die Anrede Gottes ist. Dass wir in diesem Horizont, in dieser Dimension argumentieren. Ich glaube, das ist das, wo wir uns nicht auseinander dividieren lassen können. Dass wir in einer verwandten Sprache reden. Ich würde es gar nicht am Resultat messen. Wenn es dann eine christliche Position ist, dann ist es gut. Aber wenn wir unsere unterschiedlichen Begründungen gegenseitig verstehen und auch akzeptieren, weil wir beide, weil wir alle vor Gott stehen damit – dann, glaube ich, bekommen wir auch eine wichtige Rolle in dieser Gesellschaft.

Sternberg: Da passiert ja auch schon sehr viel. In den politischen Fragen, in der politischen Lobbyarbeit arbeiten die Katholischen und die Evangelischen längst sehr eng zusammen. Die stimmen normalerweise ihre Haltungen miteinander ab. Und wir haben bei den politischen Sachfragen – das erlebe ich sowohl im Land NRW als Politiker, wie auch im Bund – längst solche Absprachen und Abklärungen zwischen den Büros, damit nicht unterschiedlich oder doppelt auftrifft, was als die christliche Stimme deutlich gemacht werden kann. Denn die Zahlen, die Sie gerade genannt haben, sind mittlerweile noch gravierender. Es sind keine zwei Drittel Christen, was die großen Kirchen angeht, also die evangelische Kirche als EKD und die katholische Kirche in Deutschland. Das sind nach den neusten Zahlen für 2016 noch für beide Kirchen zusammen 55 Prozent, bei 45 Prozent anderen. Es sind jetzt 28,5 Katholiken und 26,5 Prozent Protestanten. Das ist eine Entwicklung, die ich seit Jahren verfolge, wie wir anteilsmäßig weniger werden. Wenn 55 Prozent der Bevölkerung auftreten mit einer Stellungnahme, ist das eine sehr überzeugende Gruppe. Wenn 26,5 Prozent oder 28,5 auftreten, ist das nicht mehr so überzeugend. Und Politiker wissen solche Zahlen sehr genau einzuschätzen. Natürlich vertrauen wir auch darauf, dass es nicht alleine eine Frage der Zahl ist, sondern auch eine Frage des Argumentes. Und da haben Sie schon völlig richtig gesagt, dieses Argument muss erarbeitet sein und es muss klar sein, auf was sich eine solche christliche Position stützt. Wenn sie dann gut ist, wird sie auch verstanden – egal wie groß die Gruppe ist, die dahinter steht.

Aus der Au: Genau! Das haben wir auch beim Kirchentag in Berlin gemerkt. Wir hatten ja einige Veranstaltungen, auch zusammen mit Vertretern des humanistischen Verbandes oder Atheisten oder Behörden oder eben der Nicht-Kirchenmitglieder. Und da war ein großes Potenzial, auch für Übereinstimmungen. Wir ziehen sozusagen am selben Strang, auch wenn wir nicht von den selben Voraussetzungen her ziehen.

Sternberg: Wenn das gelingt, wird es gut! Es gibt natürlich auch Fälle, wo wir genau in diese Problematik geraten, dass wir mit einer christlichen Positionierung angesehen werden, als wäre das mit einer Binnenlogik durchaus verständlich und nachvollziehbar – aber selbstverständlich nur für Christen. Da liegt für mich die wichtigste Frage des politischen oder des sozialethischen Handelns: Wie schaffen wir es, unsere Argumente so zuzuspitzen, zu schärfen und klar zu machen, sie auch verständlich zu machen, dass sie auch für jemanden, der nicht Christ ist, verständlich und nachvollziehbar werden? Denn das wird die große Frage sein. Wenn man nicht mehr Mehrheit ist, dann braucht man eine Argumentationsschiene, bei der man nicht einfach sagen kann: „Das steht aber so in der Bibel“ – und dann ist es gut. Dann wird mir nämlich jemand anders sagen: „Die interessiert mich aber nicht, die Bibel. Und deshalb muss mich auch nicht dein Ergebnis interessieren.“ Nein, das Ergebnis muss so überzeugend sein, dass auch jemand, der aus anderen Quellen kommt, sagt: „Ja! Weil das so richtig ist. Deshalb kann ich das auch aus meinen Traditionen heraus nachvollziehen und für richtig halten.“

Aus der Au: Das heißt faktisch, dass wir zweisprachig sein müssen, nicht wahr? Dass wir unsere eigene Herleitung der Argumente durchaus in Auseinandersetzungen mit biblischen Texten und im binnenkirchlichen Dialog erarbeiten. Und dann müssen wir die Argumente in eine säkulare Sprache übersetzen, um auch dort anzukommen.

• Sehen Sie beide denn Themen, wo Sie sich noch mehr die eine christliche Stimme oder das gemeinsame Wort der Kirchen wünschen würden? Seitens der beiden Kirchenleitungen oder auch seitens der Laien. Und: Wie viel Einfluss haben überhaupt die Laien?
Sternberg: Da haben wir ein Problem mit der öffentlichen Wahrnehmung. Im Grunde genommen sind nach katholischem Verständnis die „Laien“, also die Nicht-Kleriker, diejenigen, die für politische Sachverhalte und politische Inhalte in kirchlichen Äußerungen zuständig sind. Da wir medial eine Ämterfixierung haben, wird trotzdem das, was ein Bischof und die Bischofskonferenz sagt, entscheidender sein. Auch dann, wenn es um Themen geht, bei denen die Kompetenz nicht in der Theologie liegt. Da haben wir ein Problem in der Wahrnehmung und in der Darstellung im Katholischen, aber daran wird gearbeitet. Wenn wir ökumenisch auftreten, dann müssten wir das im Grunde genommen tun auf der einen Seite die EKD als synodal verfasstes Gremium und auf der anderen Seite ZdK und Bischofskonferenz, mit Schrägstrich. Das haben wir übrigens auch so getan beim „Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage“ 1997. Aber trotzdem wird immer stärker oder immer wieder reduziert auf einzelne Personen. Das hat mich auch beim Evangelischen Kirchentag ein bisschen überrascht. Sie wissen das, Frau Aus der Au, dass das offenbar nicht nur ein Problem der Katholiken ist, sondern dass es das auch evangelisch gibt. Dass dann Frau Schwaetzer da sein kann, dass Frau Aus der Au da ist und trotzdem Heinrich-Bedford Strohm gezeigt wird, weil er derjenige ist, den man mit evangelisch verbindet. Heinrich-Bedford Strohm ist aber nach keinerlei evangelischem Verständnis der alleinige Kopf der evangelischen Kirche und versteht sich selbst sicher nicht so. Aber so genau differenziert da eine Öffentlichkeit nicht, die Vereinfachungen braucht. Und das ist eine große Schwierigkeit, wie man das kommunikativ hinbekommt: deutlich zu machen, dass das weder evangelisch noch katholisch richtig ist, es zu reduzieren auf die eine Persönlichkeit.

Aus der Au: Genau. Das ist aber ein Problem der Medien, die in jedem Bereich lieber Köpfe haben. Aber das ist kein theologisches Problem. Wenn ich auf die Frage schaue, wo wir uns wünschen würden, dass sich die Kirchen stärker gemeinsam engagieren und positionieren, dann muss man auch sagen: Es ist schon so, dass gerade auf Grund der Entwicklung der Mitgliederzahlen die Kirchen auch sehr mit sich selber beschäftigt sind. Sie starren darauf, wie das Kaninchen auf die Schlange: „Wie können wir uns reorganisieren? Und was passiert mit unseren Finanzen? Mit unseren Gebäuden?“ Darüber gerät der Auftrag, Kirche in der Welt zu sein und auszustrahlen und sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, manchmal ein bisschen ins Hintertreffen. Man denkt, erst wenn wir Kirche wieder ordentlich aufgegleist und wieder steigende Mitgliederzahlen haben, dann können wir wieder wer sein. Laien gibt es ja bei uns nicht, aber die Gemeindeglieder, die zu großer Zahl ehrenamtlich unterwegs und engagiert sind und aus ihrem Glauben heraus handeln – die finde ich sehr beeindruckend. Meine Hoffnung liegt tatsächlich darauf, dass Kirche in der Form der Laien oder Christinnen und Christen, die eben auch Priestertum sind – gemäß dem Priestertum aller Laien –, dass Kirche hier lebt und existiert und ausstrahlt.

Sternberg: Auch daran kann ich anknüpfen. Das halte ich wirklich für ganz wichtig. Und da darf ich auch noch einmal unseren Papst nennen, der uns diesen Perspektivwechsel nochmal deutlich gemacht hat. Das Entscheidende der christlichen Existenz ist zu dienen. Das hat uns die große Umwertung aller Werte durch Jesus Christus klar gemacht. Der Dienst ist die wirkliche Herrschaft. „Ich bin nicht gekommen, um mich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen.“ Und diesen Dienst zu tun für andere, der bringt eine Perspektivenveränderung, dass wir unser Haus nicht deshalb in Ordnung bringen, damit wir es zu Hause schön haben – sondern damit wir in der Lage sind umso besser unseren Dienst zu tun.

Aus der Au: Um andere zu beherbergen in diesem Haus.

Sternberg: Und wenn wir das ernst nehmen, wenn man diesen Dienstcharakter richtig ernst nimmt, dann habe ich einige große Themen, mit denen wir uns – auch als ZdK – dringend beschäftigen müssen. Neben einigen bioethischen Fragestellungen, wie zum Beispiel dem Gen-Editing, haben wir drei weitere große Themen: Das Eine ist das Thema Dialog mit dem Islam. Ich fürchte, wenn wir diesen Dialog nicht intensiv führen, entstehen Entwicklungen in Deutschland, die man nicht mehr steuern kann. Das Zweite ist die Arbeit an der Aussöhnung mit Polen sowie Ost-und Mitteleuropa. Das ist vor allen Dingen auch eine katholische Anfrage, denn die polnisch-deutsche Aussöhnung war wesentlich auch eine Aktion der katholischen Kirche, übrigens nicht nur von Bischöfen, sondern auch von Katholiken, Frauen und Männern in Polen und Deutschland. Wir müssen heute viel daran tun, um das Wegbrechen auch in den kühler werdenden politischen Beziehungen aufzufangen über viele Kontakte und Austausche. Und das Dritte, was wir – evangelisch und katholisch – immer schon als Eine-Welt-Thema behandelt haben und das mittlerweile auf der Spitze der Tagesordnung steht, ist das Thema internationale Gerechtigkeit oder die internationale soziale Frage vor allem in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Die gehört auch ganz oben auf die Tagesordnung. Das reicht von der Frage, wo und wie werden die Dinge produziert, die wir tragen und die wir gebrauchen, bis zu der Frage: Wie sind weltweit soziale Standards – wenigstens minimal – durchzusetzen? Das sind die ganz großen Themen, bei denen wir auch gefragt sind.

Aus der Au: Ja! Aber das ist aus meiner Sicht noch nicht tief sitzend, ich möchte noch eine andere Perspektive einbringen. „Dialog mit dem Islam“ hätte ich formuliert als „Dialog mit Muslimen und Muslimas“. Also nicht mit dem Islam, sondern mit den Menschen. Zum Einen hier vor Ort – dazu gehört die Integration von Menschen, die hierher kommen und hierher geflüchtet sind. Weil sie dort, wo sie gewesen sind, nicht mehr leben können. Das sind nicht nur Muslime, also: Dialog mit den geflüchteten Menschen. Und was vielleicht katholisch oder auch eine deutsche Perspektive ist, die Aussöhnung mit Polen und Ost- und Mitteleuropa, würde ich formulieren als: Was machen wir für Europa? Wie stärken wir die europäische Zivilgesellschaft? Was können wir als Christinnen und Christen dazu beitragen, dass nicht diese nationalstaatlichen Grenzen so riesig werden? Und das sage ich bewusst auch als Schweizerin! Welche Verantwortung haben wir für Europa? Und – da bin ich natürlich sehr einverstanden – Eine Welt. Wie können wir als Christinnen und Christen Konsumentinnen und Konsumenten sein? Wofür stehen wir eigentlich ein? Mit unserem Leben? Mit unserem Alltag? Das ist auch etwas, was reformatorisch sehr stark noch mal in den Mittelpunkt gerückt wurde. Dass Christ sein eben nicht nur im Gottesdienst stattfindet und nicht nur als Priester oder Priesterin, sondern eine Alltagssache ist. Im Beruf, als Hausfrau, als Frau in ihrem Beruf, als Mann, als Kind. Was heißt das? Und auch auf struktureller Ebene. Wo setzen wir uns politisch ein? Und erheben unsere Stimme gemeinsam? Damit wir stark und hörbar werden.

• Versöhnte Verschiedenheit beziehungsweise die Einheit der Kirchen ist hier nochmal das Stichwort. Es wird ja kaum je eine vollständige Einheit der beiden Kirchen geben, auch wenn regelmäßig dafür gebetet wird in den Kirchen. Was ist Ihre Vorstellung, Ihre Vision von einer wirklichen Einheit der Kirchen, unabhängig vom Konzept der versöhnten Verschiedenheit? Und auch mit Blick darauf, dass zur Ökumene qua Definition ja eigentlich nicht nur die katholische und die protestantische Kirche gehören – das ist ja nur immer so ein bisschen unsere Engführung aus der christlichen Perspektive.
Aus der Au: Für mich – und das habe ich wirklich auch von den katholischen Theologinnen und Theologen gelernt – ist das Abendmahl tatsächlich eine der zentralen Lebensäußerungen der christlichen Kirche. Und wenn wir von versöhnter Verschiedenheit reden, dann wünsche ich mir und wäre meine Vision ein riesengroßer Tisch mit Menschen aller Konfessionen – um die säkularen jetzt nicht zu vereinnahmen, beschränke ich mich jetzt auf alle, die sich Christinnen und Christen nennen, egal aus welchen Frömmigkeitsstilen und Ecken – die miteinander Brot und Wein teilen, aber dann auch miteinander essen und trinken und ins Gespräch kommen und sich auch gerne streiten, aber miteinander am Tisch sitzen bleiben. Und die wissen, der Gastgeber ist nicht eine Kirche, nicht ein Repräsentant, sondern Jesus Christus. Und deswegen sind alle eingeladen. Das wäre meine Vision von versöhnter Einheit und versöhnter Verschiedenheit.

Sternberg: Ich gebrauche den Begriff „versöhnte Verschiedenheit“ nicht so gerne, weil ich ihn zu blass finde. Versöhnte Verschiedenheit geht immer. Versöhnte Verschiedenheit haben wir auch mit Hinduisten und Buddhisten und Christen und Muslimen. Die sollten alle in einer versöhnten Verschiedenheit sein, denn unversöhnt wollen wir hoffentlich nicht sein. Ich finde schon, dass die versöhnte Verschiedenheit unter den Konfessionen Ankerpunkte braucht und dazu gehört etwa die Eucharistiegemeinschaft. Wir haben zum Glück die allgemeine Anerkennung der einen christlichen Taufe. Das ist schon ein wichtiger Schritt. Aber solche Schritte sind noch weiter zu gehen und da ist noch sehr viel zu tun. Deswegen warne ich davor, sich zurückzulehnen auf diesem Begriff und zu sagen: „Wenn wir eine versöhnte Verschiedenheit haben und wenn wir uns gegenseitig nichts Böses wollen, ist eigentlich alles erreicht.“ Das reicht nicht. Es muss nicht die volle Kircheneinheit sein in dem Sinne, einer auch organisatorischen kirchlichen Einheit. Auch nach katholischem Verständnis ist die geistige Ecclesia Christi nicht gänzlich identisch mit der römisch-katholischen Kirche! Das ist nie katholische Dogmatik gewesen. Aber dass man eben fragt: wie kommen wir zu einem Verständnis, dass diese geistige, große Kirche, diese Ecclesia Christi, Wirklichkeit wird im Sinne einer echten Gemeinschaft. Da ist das Ökumenische Fest am 16. September in Bochum eine kleine Stufe und wieder ein Schritt.

Aus der Au: Darf ich versöhnt noch ein bisschen mehr füllen? Es ist für mich auch wichtig, dass es nicht einfach „Ich tu dir nichts und du tust mir nichts“ ist. Sondern: „Wir gehen einander etwas an. Und es tut weh, wenn wir nicht hier zusammen sitzen können.“ Das braucht Arbeit, uns wieder nahe zu kommen. Aber es schmerzt, wenn man getrennt ist. Und es geht darum, nicht einfach nur nebeneinander, sondern miteinander zu sein. Von daher kann ich besser leben mit diesem Begriff, weil Versöhntheit für mich wirklich ein sogenanntes „thick concept“, ein richtig schwerer, normativer Begriff ist.

• Professor Sternberg, Sie hatten zum Abschluss des Evangelischen Kirchentages ja auch schon die evangelischen Christen dezidiert eingeladen zum nächsten Katholikentag in Münster. Und Sie haben angekündigt, dass die Ökumene dann weitere Fortschritte machen und neue Schwerpunkte setzen wird. Haben Sie da schon etwas Konkretes im Blick?
Sternberg: Es gibt einmal den Bereich der offiziellen Kontakte und der offiziellen, ökumenischen Themen. Da ist es – auch außerhalb dieser ökumenischen Themen – immer häufiger der Fall, dass auf Podien evangelische Frauen und Männer platziert sind, ohne dass man sich eigentlich groß Gedanken darüber macht: ist der oder die jetzt katholisch oder evangelisch? Einfach, weil sie die sachgerechten Gesprächspartner sind. Das ist sehr viel normaler und selbstverständlicher geworden. Und was die Einladung angeht: wir wissen mittlerweile aus unseren Besucher- und Teilnehmeranalysen, dass der Anteil von evangelischen Christen bei Katholikentagen und von Katholiken bei evangelischen Kirchentagen in den letzten Jahren deutlich angewachsen ist. Es gibt Leute, die jedes Jahr einen Kirchentag besuchen.

Aus der Au: Kirchentag feiern – genau! Dazu gehöre ich zum Beispiel. Es ist aber auch wichtig, dass das nicht überflüssig macht, dass wir dann auch wieder gemeinsam einen Ökumenischen Kirchentag feiern werden. Wir freuen uns sehr darüber, dass das jetzt wieder möglich wird, 2021 in Frankfurt am Main. Die bisherigen Ökumenischen Kirchentage waren bereits Schritte auf einem Weg, in bestimmten Zeiten, mit bestimmten Fragen. Daher würde ich jetzt nicht sagen können und wollen, was 2021 dann die ökumenische Frage sein wird – aber dass wir daran arbeiten, uns zusammensetzen und sagen, wir machen eine gemeinsame Kirche, das finde ich schon eine ganz tolle Sache. Und ich freue mich darauf!

Sternberg: Ich schätze auch die Ökumenischen Kirchentage, in denen man das Ökumenische ganz grundsätzlich thematisiert und gemeinsam bearbeitet und erarbeitet. Ich halte aber auch die Katholikentage und Kirchentage weiterhin für sinnvoll. Denn ich habe in der Ökumene manchmal etwas als unangenehm empfunden: Wenn man einen ökumenischen Gottesdienst verließ und gedacht hat: „Für dich als Katholischen hast du dich nicht zu Hause gefühlt.“ Dann denkt man: „Das war wahrscheinlich evangelisch, was dir jetzt hier nicht gefallen hat.“ Dann spricht man mit evangelischen Teilnehmern und die sagen: „Ich habe mich überhaupt nicht zu Hause gefühlt, das war wahrscheinlich katholisch.“ Wenn es gar nichts mehr ist, dann kann es auch profillos und gesichtslos werden, sodass es sinnvoll bei ökumenischen Ereignissen sein kann: Lasst uns einmal eine richtig katholische Messe und das andere Mal ein richtig evangelisches Abendmahl feiern, aber bitte beides in der Vollform! Damit man auch mal sieht, wie schön die jeweils andere Liturgie ist! Und nicht immer glaubt, die Defizite sind dem anderen zuzuschreiben, obwohl das vielleicht gar nicht stimmt.

• Eine etwas andere Frage zum Abschluss. Sie können jetzt wählen. Sie machen eine Zeitreise – geht es in die Vergangenheit zu einer Begegnung mit Luther oder geht es in die Zukunft und wenn ja, wen möchten Sie da gerne treffen und welche Botschaft, oder auch welche Fragen nehmen Sie jeweils mit?“

Aus der Au: Also für mich definitiv Zukunft! Eine Zeitreise in die Zukunft und ich würde schon gerne sehen, wie es mit dieser Kirche und der Gesellschaft weiter geht und wenn ich jetzt ein bisschen frech sein darf: ich würde gerne die erste Päpstin kennenlernen. Und sie fragen, was dazu geführt hat, dass sie jetzt im Amt ist, wie sie das sieht und wie es weiter geht mit der Kirche. Ja, da treffen wir uns.

Sternberg: Für mich ist auch die Frage der Zukunft wichtig. Und zwar, wie man in einem größeren oder selbstverständlichen Pluralismus, in einem Land wie Europa, so viel Spiritualität bewahren oder auch gewinnen kann, dass die Gottesfrage offen bleibt. Dass Gott wichtig bleibt in dieser europäischen Gesellschaft. Und dass man das so hält in einer Offenheit gegenüber anderen Religionen und anderen Religionsgemeinschaften, gegenüber notwendiger, größerer Pluralität – aber umso überzeugender als ein Dienst, der nicht missionarisch arbeitet im Sinne der verbalen Überzeugung, sondern des überzeugenden Handelns und des überzeugenden Auftretens von Männern von Frauen, die aus ihrem christlichen Geist und aus ihrem Gebet heraus etwas vermitteln und weiter tragen von dem, aus dem dieses Europa geboren ist.

Also würden Sie quasi den Europäer der Zukunft, den christlichen Europäer der Zukunft gerne kennenlernen?

Sternberg: Ja! Mir ist diese Frage nach Europa sehr wichtig. Denn ich frage mich schon, wie die großen Geschichten dieses Landes aussehen können und ich bin sicher: zu diesen großen Geschichten Europas gehört das Christentum zentral dazu. Ohne dass ich da etwas vereinnahmen will. Und ich will auch nichts beschönigen. Aber das Christentum ist wichtig und gehört zu diesem Narrativ von Europa. Da will ich fragen: Wie kann ich das neu fruchtbar machen? Nicht im Sinne eines Erhaltens von Altem, von Etwas das sich vielleicht überlebt hat und vergangen ist, sondern wie kann ich das als Methode bewahren? Wie kann ich deutlich machen, dass christliches Denken, christliches Handeln die Welt verändert hat? Also anders denken als nach Gegenständen und Substanzen des Christlichen, eher nach Formen, nach Wirkungen, nach Haltungen des Christlichen.

Aus der Au: Und nach Prozessen. Um da auf ein letztes Event hinzuweisen. Wenn Sie die Frage hätten, an welchem Ereignis möchten Sie gerne in der Zukunft teilnehmen… Daran arbeiten wir ja: an einem ersten europäischen Kirchentag. Der total selbstverständlich von Anfang an schon ökumenisch aufgegleist ist und wo nicht nur Vertreterinnen und Vertreter des Katholizismus und Protestantismus, katholische und evangelische Menschen im Steuerungsausschuss sitzen sollen, sondern auch Menschen aus russisch-orthodoxen Kirchen, der griechischen-orthodoxen Kirchen, der serbisch-orthodoxen Kirche, der Freikirchen.„European Christian Convention“ ist der Begriff dafür, um nicht den Kirchentag überzustrapazieren. Das ist das, dem wir uns genau stellen. Wie können wir, ökumenisch, über die Grenzen hinaus in Europa zusammenstehen? Bei einem europäischen Kirchentag, wo nicht wir, die Deutschen und die Schweizer, die Themen vorgeben, sondern wo wir sagen: Was sind gemeinsame Themen? Oder auch unterschiedliche Themen, die wir dann gemeinsam diskutieren können. Und irgendwann in den 2020er-Jahren wird dieser erste, Europäisch-Ökumenische Kirchentag stattfinden – irgendwo in einem europäischen Land.

Interview: Gerd-Matthias Hoeffchen („Unsere Kirche“) und Hildegard Mathies („Neues Ruhr-Wort“)
Das Interview erschien in einer gekürzten Fassung zuerst in „ÖM. Das Ökumenische Magazin“, einem Gemeinschaftsprojekt der evangelischen Zeitung „Unsere Kirche“ und der unabhängigen katholischen Wochenzeitung „Neues Ruhr-Wort“ zum Ökumenischen Fest der deutschen evangelischen und katholischen Kirche am 16. September 2017 in Bochum.