Auschwitz-Überlebende warnen vor Ritualisierung von NS-Gedenken

(Foto: pixabay)

Zwischen zwei Tonnen Menschenhaar und Hunderttausend Schuhen

Ein Besuch bei den Restauratoren des Museums Auschwitz-Birkenau

In manchen Räumen stehen weiße Tische mit Mikroskopen, in anderen Messbecher und Flaschen mit Chemielösungen; in der Luft liegt ein strenger Chemikaliengeruch. Immer wieder laufen Menschen in weißen Kitteln und mit Gummihandschuhen über den Flur. Konzentriert sitzt Margrit Bormann an einem Tisch und kratzt vorsichtig mit einem Skalpell an den Beschlägen eines alten Koffers. „Ich nehme die Korrosion herunter und muss aufpassen, nicht in das Metall zu schaben“, sagt sie. Die Löcher und Quetschungen an dem Korpus des Koffers repariert sie nicht. Lediglich ein Schutzlack kommt über das Gepäckstück, ehe es noch fotografiert und danach zurück ins Magazin gebracht wird.

Bormann ist Deutsche und eine von 15 Mitarbeitern der Konservatoren-Werkstatt im Museum Auschwitz-Birkenau. In den Magazinen des zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden Vernichtungslagers der Nationalsozialisten in der südpolnischen Kleinstadt Oswiecim lagern grausige Relikte: Rund 110000 Schuhe, fast 4000 Koffer, über 300 Häftlingsanzüge, Regalmeter an Dokumenten und unzählige weitere Habseligkeiten wie Zahnbürsten oder Brillen von Holocaust-Opfern.
Hinzu kommen immobile Objekte wie die über 150 Gebäude auf dem Gelände – darunter die Lagerbaracken, Gaskammern und Krematorien sowie kilometerlange Zäune. Möglichst alles soll konserviert und damit für die Nachwelt bewahrt bleiben, sagt Pawel Sawicki, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit im Museum. „Denn das Fundament für die Erinnerung ist der authentische Ort Auschwitz“, gerade wenn die letzten Zeitzeugen sterben. Daher müsse man die Authentizität des Ortes für die nächsten Generationen bewahren. Eine Ausnahme bilden die zwei Tonnen Menschenhaar. Als menschliche Überreste werden sie nicht konserviert.

Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Denn 73 Jahre nach der Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 durch die Truppen der Roten Armee sind viele Objekte in einem schlechten Zustand. Erschwerend hinzu komme auch die „mindere Qualität der Materialien“ vieler Objekte, ergänzt Aleksandra Papis, die Leiterin der Konservatoren-Werkstatt. Andere Museen hätten in ihren Sammlungen Objekte von höchs­ter Qualität, etwa von Königen und Herrschern. In den Auschwitz-Magazinen sei es gerade umgekehrt: Papier etwa wurde im Krieg wegen des Rohstoffmangels nur in schlechter Qualität produziert. Daher setze der Zerfall schneller ein.

„Ich muss lernen, Abstand zu halten“

Zudem seien viele Exponate stark abgenutzt. Insbesondere die Koffer, die nach Ankunft der Insassen durchsucht und dabei oft kaputt gemacht wurden. „Normalerweise würde man die Koffer wieder instandsetzen und schön aussehen lassen“, erklärt die Restauratorin. Aber hier wolle man zeigen, was mit ihnen gemacht wurde. „Dass sie oft zerstört wurden, macht die Geschichte aus. Wir versuchen daher, nicht alle Spuren zu tilgen.“ Löcher, die aus der Zeit vor der Befreiung stammen, werden nicht geflickt, ebensowenig werden Spuren von Blut oder Erde beseitigt. Bei solchen Verunreinigungen wird die in Köln ausgebildete Konservatorin schon nachdenklich. „Ich habe aber gelernt, gedanklich nicht zu tief in die Geschichte einzusteigen, weil es dann schwer wird mit dem Gegenstand“, erzählt die 37-Jährige. Gerade ein Koffer sei so ein Objekt: „Der Mensch kauft ihn, benutzt ihn auf Reisen. Und wir wissen, sein letztes Ziel war Birkenau, denn der Eigentümer wurde hier ermordet.“

Mehr als 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz und den Nebenlagern während der Zeit des Nationalsozialismus umgebracht. Nicht alle Opfer sind namentlich bekannt. Daher gleicht es einer kleinen Sensation, wenn sich etwa in einem Schuh eine Nachricht findet und dieser einer konkreten Person zugeordnet werden kann, sagt Werkstattleiterin Papis. „Das kommt aber nicht so oft vor.“ Häufiger dagegen wird Margrit Bormann gebeten, deutschsprachige Dokumente oder Baupläne des Lagers zu übersetzen. Sie arbeitet seit sieben Jahren im Museum Auschwitz. Dabei wollte sie ursprünglich Kunstdenkmäler restaurieren. Als 16-Jährige sah sie im Fernsehen, wie die Fresken der Sixtinischen Kapelle erneuert werden, und wollte seitdem den Beruf ergreifen. „Mein Wunsch war es, den Dingen nah zu sein“, sagt sie heute. Dieses Motiv ist ihr im Auschwitz-Museum nicht abhandengekommen. „Das wird mir manchmal zum Verhängnis – ich muss lernen, den nötigen Abstand zu halten“, etwa bei einem Ausflug in die nahen Berge oder beim Feierabendbier mit Kollegen.

Fällt es ihr als Deutscher nicht schwer, täglich auf dem Gelände des ehemaligen deutschen Vernichtungslagers zu arbeiten? Sie habe gelernt, mit dem Schuldgefühl umzugehen, sagt sie nach langem Nachdenken. Und sie sieht in ihrer Arbeit auch eine große Verantwortung. „Es hilft mir, dass ich als Restauratorin selbst mit meinen Händen dazu beitragen kann, dass dieser Ort und diese Geschichte nicht in Vergessenheit geraten.“

Markus Nowak

 

Die Fabrik des Todes

Holocaust-Gedenktag verweist auf Befreiung von Auschwitz

Auschwitz, das ist der furchtbarste Name, den die deutsche Geschichte kennt. Was zwischen 1940 und 1945 in der größten Menschenvernichtungsanlage der Nazis passierte, hatte die Welt bis dahin nicht gesehen: den industrialisierten Massenmord im Fließbandverfahren. Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Soldaten die letzten rund 7.000 Häftlinge. Seit 1996 begeht die Bundesrepublik an diesem Tag den Holocaust-Gedenktag. 2006 wurde der Gedenktag auf Beschluss der Vereinten Nationen auch weltweit in den Kalender übernommen.

Bis zu eineinhalb Millionen Menschen kamen im Stammlager Auschwitz und den Nebenlagern Birkenau und Monowitz sowie den rund 40 Nebenlagern um: meist Juden, aber auch Sinti und Roma, Polen oder russische Gefangene. Als sich die Rote Armee im Januar 1945 dem gut 60 Kilometer von Krakau entfernt gelegenen Lager näherte, hatte die SS bereits versucht, die Spuren der Vernichtung zu beseitigen. Doch das misslang: Die sowjetischen Soldaten fanden unter dem Schnee nicht nur die Spuren der Krematorien, sondern auch noch sechs Warenlager, in denen sich die Habseligkeiten der Häftlinge stapelten: fast 350.000 Anzüge von Männern und rund 840.000 Frauenkleider – sowie Berge von Frauenhaar und Zahngold.

Anfang 1940 hatte der „Reichsführer SS“, Heinrich Himmler, in dem polnischen Städtchen Oswiecim ursprünglich ein Lager für polnische Widerstandskämpfer geplant. Doch der Ehrgeiz deutscher Industrieller trieb die SS dazu, aus den vor Ungeziefer strotzenden Kasernen eine Rüstungszentrale aufzubauen: Die IG Farben wollte ihre Kunstkautschuk-Produktion durch ein neues Buna-Werk erhöhen – und der SS kam das gelegen, um sich eine Vormachtstellung in der deutschen Wirtschaft zu sichern. Für ein paar Mark pro Tag wurden die Häftlinge an die IG Farben „vermietet“. Fortan kamen immer mehr Gefangene: In das schon für 8.000 Häftlinge viel zu enge Stammlager ließen Himmler und sein Lagerkommandant Rudolf Höß etwa 130.000 Häftlinge pferchen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion entstand in Birkenau ein eigenes Kriegsgefangenenlager, das für 100.000 Häftlinge vorgesehen war.

„Selektion an der Rampe“

Zur Todesfabrik entwickelte sich Auschwitz endgültig ab Herbst 1941, als Hitler mit Blick auf den stockenden Russland-Feldzug und den absehbaren Kriegseintritt der USA immer neue Drohungen gegen die Juden ausstieß. Ab Juli 1942 wurde die „Selektion an der Rampe“ eingeführt. Direkt aus den Güterzügen wurden die zur Vernichtung ausgewählten Menschen in die Gaskammern gebracht und mit Zyklon B ermordet. Den nicht sofort für den Tod bestimmten Häftlingen erging es kaum besser: “Vernichtung durch Arbeit” hieß die Devise. Andere wurden Opfer von medizinischen Versuchen, die unter anderem der Lagerarzt Josef Mengele durchführte.

„Wohl war dieser Befehl etwas Ungewöhnliches, Ungeheuerliches“, schrieb Lagerkommandant Höß im Rückblick angesichts der Himmler-
Anweisung, Auschwitz in eine Menschenvernichtungsmaschine zu verwandeln. Höß wurde 1947 hingerichtet. „Doch die Begründung ließ mir diesen Vernichtungsvorgang richtig erscheinen. Ich stellte damals keine Überlegungen an – ich hatte den Befehl bekommen, und ich hatte ihn durchzuführen.“ Ähnlich argumentierten viele der zeitweise über 4.000 Männer und Frauen zählenden Wachmannschaft aus den Reihen der SS. In der unmittelbaren Nachkriegszeit verdrängten die Deutschen das Geschehen. Selbst die fünf Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 1960er und 70er Jahren konnten die Aufmerksamkeit nur wenig erhöhen. Erst die Studentenbewegung und eine scheinbar triviale amerikanische Fernsehserie veränderten die Situation: Mit „Holocaust“ wurde Ende der 70er Jahre lange Verschüttetes freigelegt.

Mittlerweile bewerten Staatsanwälte und Gerichte die Rolle von KZ-Personal anders: Demnach hat sich schuldig gemacht, wer Teil der Tötungsmaschine war. Der Nachweis einer Beteiligung an einer konkreten Tat ist damit nicht mehr nötig. Diese Rechtsauffassung wurde im Fall des 2015 verurteilten „Auschwitz-Buchhalters“ Oskar Gröning 2016 in einer historischen Entscheidung vom Bundesgerichtshof bestätigt. Derzeit sind weitere Ermittlungsverfahren gegen SS-Wachmänner anhängig.

Christoph Arens

 

Auschwitz-Überlebende warnen vor Ritualisierung von NS-Gedenken

Unmittelbar vor dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar warnen Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz vor einer „zunehmenden Ritualisierung und Trivialisierung“ des Gedenkens. Der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, begründete das am Donnerstag in Berlin mit den politischen Entwicklungen in vielen europäischen Ländern. Er beklagte ein „Denken in nationaler Engstirnigkeit“, „Aggressivität gegen Flüchtlinge“ und eine Wiederkehr von antisemitischen Tendenzen. „Tagtäglich wird von diesen Kräften das Verbindende und die Würde einer Gesellschaft unflätig und zynisch angegangen und der Aufruf zu Aggressivität, Ausgrenzung und Widerstand unters Volk getragen. Für die Auschwitz-Überlebenden ist all dies im Jahre 2018 bitter und bedrohlich.“

Gerade in diesem Jahr sei der Gedenktag in den Augen der Überlebenden des Holocaust nicht nur ein Tag der Erinnerung an die Verbrechen Nazi-Deutschlands, „sondern auch ein Tag, der wie ein Stachel in die heutige Welt hineinragt und verdeutlicht, wie viel zu ähnlich und bedrohlich Antisemitismus, Hass und Intoleranz längst wieder den gesellschaftlichen Alltag – besonders junger Menschen – prägen“. Heubner weiter: „Die Überlebenden sind dankbar, dass sich bei so vielen Gedenkfeierlichkeiten aus Anlass der Befreiung von Auschwitz Menschen ihrer Geschichte und der ihrer ermordeten jüdischen Familien erinnern. Aber sie verbinden dies auch mit der dringenden Bitte: Richtet den Blick auch in Eure Gegenwart und in Eure Zukunft. Die Demokratie braucht Euch, gerade jetzt.“

Auschwitz war die größte Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten. Vor 73 Jahren wurde das Vernichtungslager von den Sowjets befreit. Seit 1996 begeht Deutschland am 27. Januar den Holocaust-Gedenktag.

kna