Der Druck zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen ist nach Einschätzung des Jesuitenpaters Klaus Mertes an der Spitze der Kirche angekommen.
„Die Öffentlichkeit interessiert sich nur für zwei Themen: Missbrauch und Homosexualität“, sagte er am Sonntag im Interview bei domradio.de. Je mehr sich Kirchenvertreter weltweit dem Umgang mit Missbrauchsfällen widmen müssten, „desto mehr müssen sie sich natürlich auch ihrer eigenen Rolle in dem Thema stellen“. Es sei ein deutliches Zeichen, „wenn ‚Obervertuscher‘ anfangen, anderen auf ihrer hierarchischen Ebene Vertuschung vorzuwerfen“.
„Tiefe Institutionenkrise“
Es handle sich um eine „tiefe Institutionskrise“, so Mertes, der seit 2010 eine entscheidende Rolle bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in katholischen Schulen übernahm. Diese Krise müsse anerkannt werden und lasse sich nicht von „irgendwelchen Buß-Gottesdiensten und neuen Gedenktagen“ überdecken.
In der katholischen Weltkirche herrsche ein „tiefer Dissenz über die Frage nach den Ursachen für Missbrauch“. So forderten manche Kirchenvertreter, Homosexuelle aus dem Klerus zu entfernen. Mertes: „Wenn man pauschal sagt, die Schwulen seien schuld, dann ist das eine diskriminierende Strategie.“
Abhängigkeitsverhältnis
Homosexualität sei in der katholischen Kirche so stark tabuisiert, dass schwule Kleriker unter massiven Schuldgefühlen litten, erklärte der Pater. Zudem könne die ehelose Lebensform von Priestern mitunter Personen anziehen, die sich mit ihrer Sexualität nicht auseinandersetzen wollten. Priester, die zu ihrer Homosexualität stehen, hätten bislang oft gesagt bekommen: „Halt die Klappe und sag es niemandem, dann darfst du.“ So entstehe ein Abhängigkeitsverhältnis; wer daraus aussteige, dem drohe die soziale Vernichtung.
Kritisch äußerte sich Mertes auch zu einer „Fixierung auf eine zentrale Lichtgestalt“ in der katholischen Kirche. Sie erschwere die Aufklärung von Machtmissbrauch: „Die Vorstellung, dass es eine Lichtgestalt gibt, hindert uns daran, an die Strukturen heranzugehen. Auch Papst Franziskus habe offenbar lange nicht verstanden, „dass er selbst Teil des Problems war“, sagte der Jesuit. Es brauche eine innerkirchliche Gewaltenteilung, um einzelne Personen zu entlasten und strukturelle Probleme behandelbar zu machen: „Der Fisch stinkt vom Kopf her. Nicht, weil Franziskus oder Benedikt und Johannes Paul schlechte Personen wären, sondern weil die Struktur da oben nicht stimmt.“