Betroffenheit und Scham dominierten zu Beginn des weltweiten Anti-Misbrauchsgipfels in Rom. Doch es gibt auch bereits praktische Reformvorschläge.
Am zweiten Tag des Anti-Missbrauchsgipfels im Vatikan sind erstmals konkrete Vorschläge zur Reform des Kirchenrechts diskutiert worden. Im Kern geht es um die Frage, wie Kirchenobere abgesetzt werden können, wenn sie selbst Missbrauch begangen oder im Umgang mit Missbrauchstätern versagt haben. Die Selbstherrlichkeit katholischer Bischöfe, die zwischen sich und dem lieben Gott nur den Papst als Kontrollinstanz sehen, soll nach diesem Vorschlag ein Ende finden.
Zwölf-Punkte-Plan
Kardinal Blase Cupich aus Chicago legte am Freitagmorgen einen Zwölf-Punkte-Plan vor, der zahlreiche Nachfragen in der Versammlung auslöste. Demnach sollen künftig die Metropolitan-Erzbischöfe, die bislang ein eher zeremonielles Führungsamt in ihrer jeweiligen Kirchenprovinz innehaben, eine Schlüsselrolle übernehmen.
Sie sollen die Verfahren an sich ziehen, die letztlich zur Absetzung eines Bischofs führen können – etwa, wenn er einer Missbrauchsanzeige nicht nachgegangen ist; oder wenn er überführte Missbrauchstäter nicht entlassen, sondern lediglich in eine andere Gemeinde versetzt hat. Unterstützung sollen die Metropoliten bei dieser Kontrollaufgabe von Nichtllerikern mit juristischer und kriminalistischer Kompetenz erhalten. Am Ende soll Rom über die Entlassung des Bischofs entscheiden.
Reformideen der US-Bischofskonferenz
Mit diesem Vorschlag greift Cupich Reformideen auf, die im Herbst bei der Vollversammlung der US-Bischofskonferenz in Baltimore kontrovers diskutiert wurden. Eine davon zielte darauf ab, die Metropoliten mit der Aufsicht über und den Ermittlungen gegen ihre Amtsbrüder zu betrauen. Dieser Vorschlag hat sich bei den US-Bischöfen nun offenbar durchgesetzt – und soll nach dem Willen von Cupich auch weltweit eingeführt werden. Auch an den Fall, dass ein Metropolit selbst für schuldig oder unfähig gehalten wird, haben die US-Amerikaner gedacht: Dann muss der dienstälteste Bischof der Kirchenprovinz das Verfahren gegen den Erzbischof in die Hand nehmen.
Als Alternative zum Cupich-Vorschlag regte am Nachmittag die im Vatikan arbeitende Kirchenrechtlerin Linda Ghisoni die Schaffung eines unabhängigen Kontroll- und Beratungsgremiums in jedem Land an. Es solle auf Ebene der Bischofskonferenz evaluieren, ob die einzelnen Bischöfe korrekt arbeiten und ob sie alles Notwendige tun, um Missbrauch zu bekämpfen. Diesen Gremien sollten überwiegend Laien, aber auch Geistliche angehören, meinte die Untersekretärin im Päpstlichen Familienrat.
Realistische Chancen
Anders als ihre Idee greift der Cupich-Plan auf bestehende Strukturen wie die Kirchenprovinzen und die Metropolien zurück. Von Konferenzteilnehmern war zu hören, dass der Vorschlag aus den USA realistische Chancen habe. Wenn er tatsächlich Kirchenrecht wird, hätte das weitreichende Folgen. Neben der strafrechtlichen Seite, für die der Fall des Jahrzehnte lang straflos gebliebenen Ex-Kardinals Theodore McCarrick als Warnung steht, kommt erstmals so etwas wie die Übernahme „politischer Verantwortung“ von Bischöfen in den Blick.
Nicht nur wenn sie kirchenrechtlich straffällig geworden sind, müssen Oberhirten dann zurücktreten, sondern auch, wenn sie in ihrer Leitungsfunktion versagt haben. „Wer sich als Hirte unfähig erwiesen hat, seine Herde vor den Verletzungen der Missbrauchstäter zu schützen, muss gehen!“, brachte der Erzbischof von Chicago die Sache auf den Punkt.
Verfassungsreform im Aufbau der katholischen Kirche
In letzter Konsequenz bedeutet der Vorschlag nicht weniger als eine Verfassungsreform im Aufbau der katholischen Kirche. Die unmittelbare Unterstellung jedes Bischofs unter den Papst würde ein Stück weit eingeschränkt, ein neues Element von „checks and balances“ in die Kirchenhierarchie eingeführt. Die Missbrauchskrise wäre damit noch nicht überwunden. Aber die Nachlässigkeit, die manche Bischöfe noch immer gegenüber den Missbrauchsfällen an den Tag legen, dürfte dann der Vergangenheit angehören.