Kirchenhistoriker: Sexualmoral geprägt von Körperfeindlichkeit

Bei der Sexualmoral hat sich das katholische Lehramt nach Auffassung des Kirchenhistorikers Matthias Daufratshofer in eine „immer enger werdende Sackgasse“ manövriert. 

Bei der Sexualmoral hat sich das katholische Lehramt nach Auffassung des Kirchenhistorikers Matthias Daufratshofer in eine „immer enger werdende Sackgasse“ manövriert. Alles habe mit der Enzyklika „Casti connubii“ begonnen, die Papst Pius XI. im Jahr 1930 veröffentlichte, sagte Daufratshofer im Interview des Portals katholisch.de (Freitag): „Meines Erachtens die lehramtliche Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die Magna Charta der rigiden Sexuallehre der Kirche.“

Nach den Worten des Kirchenhistorikers kann man die Forderungen so auf den Punkt bringen: „besser keusch leben als verdammt sein“. Das Problem sei, dass die Enzyklika bis heute eine „nicht zu unterschätzende unheilvolle Wirkungsgeschichte“ habe.

Die Enzyklika sei insofern eine „Urkatastrophe“, als dass der Papst seinerzeit „feierlich die Assistenz des Heiligen Geistes“ in Anspruch genommen habe. „Zweitens stellt sich die Frage nach dem Inhalt. Das ist schlicht und ergreifend die augustinische Leibfeindlichkeit, die hier massiv zur Kirchenlehre erhoben wird. Andere Konzeptionen werden verworfen“, sagte Daufratshofer. „Sie geht schon 1930 an der Lebensrealität vieler Katholikinnen und Katholiken vorbei.“

Es werde der außereheliche Geschlechtsverkehr verdammt, die künstliche Empfängnisverhütung verboten und die Emanzipation der Frau als „Teufelswerk“ abgelehnt, erläuterte der Fachmann. Darüber hinaus sei zu kritisieren, wie die Lehre den Gläubigen eingeschärft worden sei: „Das ist ganz massiv in den Beichtstühlen geschehen. Schließlich war jegliche Abweichung von dieser Lehre eine Todsünde. Die Kirche drang also brutal in die Schlafzimmer der Gläubigen ein. Heute würde man das geistlichen Missbrauch nennen.“

Dass es zu einer Einschärfung beim Thema Sexualmoral kam, erklärt Daufratshofer einerseits damit, dass sich die Kirche gegen sexuelle Freizügigkeit in den 1920er Jahren vor allem in Metropolen habe abgrenzen wollen. „Für die Kirche war das ein moralischer Dammbruch.“ Zudem habe die katholische Kirche einen „neuen Identitätsmarker als Bewahrerin ewiger Wahrheiten“ benötigt.

Die Überarbeitung der Ehezwecklehre auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil sei „eigentlich ein schönes Beispiel dafür, wie sich Lehre ändern kann“, betonte Daufratshofer. „Aber die alte Lehre ist immer noch tief in den Köpfen verankert.“ Sie bestimme auch die Haltung der Kirche in der heutigen Debattenlage – „bei aller mehr oder weniger wohlwollenden Rhetorik“.

Die Enzyklika „Humanae vitae“ von 1968, mit der erneut die künstliche Empfängnisverhütung abgelehnt wurde, hätte laut Daufratshofer zu einem „Wendepunkt“ werden können, sei aber ein „Point of no return“ geworden. „Die Kontinuität der Lehre musste, koste was es wolle, bewahrt werden. Es durfte keine Brüche geben. Das würde nämlich bedeuten, dass sich der Heilige Geist in ‚Casti connubii‘ geirrt hätte“. Sein Fazit: „Im 20. Jahrhundert wurde die Verbindlichkeit in Sachen Sexualmoral derart hochgeschraubt, dass es sehr schwer ist, hier ohne Gesichtsverlust wieder einige Gänge runter zu schalten.“