Götz Aly: „Geschichte bietet eben keine einfachen Wahrheiten“

Götz Aly ist einer der bekanntesten Historiker in Deutschland. Im Interview spricht er über sein Lebensthema: die Erforschung der NS-Zeit.
Der Historiker und Journalist Götz Aly wird am Dienstag 75 Jahre alt. Mit seinen Forschungen und Büchern etwa zum Antisemitismus und zur NS-Zeit stieß der gebürtige Heidelberger immer wieder Debatten an. Als Journalist arbeitete Aly unter anderem für die taz und die Berliner Zeitung. Gastprofessuren führten ihn nach Wien, Salzburg und Frankfurt am Main. Für seine in viele Sprachen übersetzten Werke erhielt Aly mehrere Auszeichnungen, so etwa 2018 den Geschwister-Scholl-Preis für seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust "Europa gegen die Juden 1880-1945". Zuletzt widmete er sich in "Das Prachtboot" dem Umgang mit kolonialer Raubkunst. Im Interview spricht er über sein Lebensthema: die Erforschung der NS-Zeit.

Götz Aly –Foto: Andreas Labes

Der Historiker und Journalist Götz Aly wird am Dienstag 75 Jahre alt. Mit seinen Forschungen und Büchern etwa zum Antisemitismus und zur NS-Zeit stieß der gebürtige Heidelberger immer wieder Debatten an. Als Journalist arbeitete Aly unter anderem für die taz und die Berliner Zeitung. Gastprofessuren führten ihn nach Wien, Salzburg und Frankfurt am Main. Für seine in viele Sprachen übersetzten Werke erhielt Aly mehrere Auszeichnungen, so etwa 2018 den Geschwister-Scholl-Preis für seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust „Europa gegen die Juden 1880-1945“. Zuletzt widmete er sich in „Das Prachtboot“ dem Umgang mit kolonialer Raubkunst. Im Interview spricht er über sein Lebensthema: die Erforschung der NS-Zeit.

Herr Aly, Geschichte ist in diesen Tagen Gegenstand von intensiven Debatten. Sie haben selbst mit ihren Arbeiten immer wieder Debatten angestoßen. Manche Vertreter der Zunft bleiben dagegen lieber im Elfenbeinturm. Muss die Geschichtswissenschaft streitbarer werden?

Aly: Geschichtswissenschaft muss nicht streitbar sein, sie soll beschreiben, darstellen, verständlich machen. Man kann sich mit Kollegen streiten, ob etwas richtig oder falsch interpretiert ist. Aber ich mag diesen in der deutschen Zeitgeschichte vorherrschenden Hang zu schnellen Verurteilungen nicht. Deswegen las ich zuletzt Jürgen Kaubes vielschichtig und frei angelegte Max-Weber-Biographie; besonders gerne lese ich Mediävisten.

Wen zum Beispiel?

Aly: Arno Borst. Der stand um 1975 vor dem Kloster Reichenau am Bodensee und fragte: Konnte sich ein damaliger Mönch vorstellen, dass diese Abtei vor dem Jüngsten Tag zugrunde geht? Nein, das konnte dieser Mönch nicht. Heute wissen wir es besser. Aber sich erst einmal klarzumachen, in welcher Welt dieser Mensch lebte, die geistigen Horizonte seiner Zeit darzulegen, das ist für Geschichtsschreibung fundamental. Das hätte auch für die Forschung zur DDR zu gelten. Zu oft und überaus einseitig rekurrieren eifrige Nach-Wende-Historiker auf die repressive Seite und baden in Stasigeschichten, um pünktlich zu dem Urteil „Diktatur & Unrechtsstaat“ zu gelangen. Solche Kollegen verstehen sich als Scharfrichter, nicht als Historiker. Die Werke der Bildenden Kunst, die Romane und Dichtungen, die Theater- und Filmproduktionen, die in der DDR geschaffen wurden, zeigen deutlich, dass die DDR-Geschichte in gängigen Diktaturfloskeln nicht aufgeht.

Wie sieht es beim Nationalsozialismus aus?

Aly: Nehmen wir die Euthanasie-Aktion, die Morde an behinderten Menschen. Da werden die ärztlichen Täter gerne als völlig entmenschlichte „Mörder in weißen Kitteln“ geschildert. Das stimmt aber höchstens zur Hälfte. Viele der späteren Mörder gehörten nämlich zu den Psychiatrie-Reformern der Weimarer Zeit, viele waren angesehene, sogar verdienstvolle Ärzte. Wie passt das zusammen? Leider werden in unseren Schulbüchern und Gedenkstätten die sogenannten Nazi-Täter – es waren Hunderttausende – ganz überwiegend als uns völlig fremde, unsympathischen Leute dargestellt, angetan mit gewichsten Schaftstiefeln und straffen SS-Uniformen. Dabei sind diese Täter mit vielen heutigen Deutschen verwandt, sie gehörten einer deutschen Gesellschaft an, die all diese Verbrechen ermöglicht und billigend in Kauf genommen hat.

Können Sie das anhand der Euthanasie-Aktion etwas näher ausführen?

Aly: Nicht selten haben Angehörige das staatliche Angebot akzeptiert, nicht genau wissen zu müssen, wie ihre Angehörigen verschwunden sind, sprich: ermordet wurden. Ein solches Verhalten gibt es im Ansatz bis heute. Wenn jemand im weiteren Freundes- oder Verwandtenkreis auf Dauer psychisch erkrankt, kommt es auch heute nicht selten zu Kontaktreduktionen und -abbrüchen. Selbst in den aufgeklärtesten Familien stellt man sich Fragen wie diese: Aus welchem Familienzweig könnte die Krankheit kommen, sind noch andere in unserer Familie gefährdet usw. Dieses mit Angst verbundene Denken förderte die rassen- und erbhygienische NS-Propaganda massiv. Sie verschob die Schuld an psychischen Krankheiten, deren Ursachen bis heute unbekannt sind, auf das „eigene Blut“, also auf die eigene Familie. Unter den Bedingungen des Krieges förderte das das Wegsehen, das Nicht-Wissen-Wollen.

Das heißt?

Aly: Nehmen wir das Beispiel einer Mutter von drei kleinen Kindern im Jahr 1943. Sie hat einen Onkel, der seit drei Jahren in einer psychiatrischen Anstalt ist. Unter den damaligen Verhältnissen kann sie sich von diesem latent gefährdet fühlen, denn sie gehört infolge seiner Existenz und Krankheit einer „erbkranken Sippe“ an. Von ihrem Mann, der in der Nähe von Leningrad eingesetzt ist, hat sie seit sechs Wochen nichts mehr gehört, aber im „Völkischen Beobachter“ gelesen, dass dort schwere, aber siegreiche Kämpfe geführt würden. Zudem sitzt diese Frau jede dritte Nacht mit ihren drei Kindern im Luftschutzbunker, hat noch eine Mutter, die ebenfalls in einer bombardierten Stadt lebt – und dann gibt es da noch diesen Onkel Otto, der sich selbst um den Verstand gesoffen, seine Frau ständig geschlagen hat und der dann in eine Anstalt kam. Und um den soll sie sich nun auch noch kümmern? Sie tut es nicht, und das versteht man. Wer die gesamte Situation betrachtet, erkennt sofort, dass die sogenannte NS-Ideologie längst nicht der einzige Faktor war, der die Verbrechen Hitlerdeutschlands ermöglicht hat.

Wie beurteilen Sie die Rolle des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen?

Aly: Von Galen hat die Euthanasie-Aktion mit seinen Predigten im Sommer 1941 vorübergehend gestoppt, und zwar aus einer fundamental katholischen Haltung heraus, die für moderne Kirchenreformer ein Skandal wäre. In seinen drei Predigten über die Euthanasiemorde prangerte er im selben Atemzug auch kurze Röcke und vorehelichen Sex an. Heute würde fast jeder sagen: Ein Bischof, der so predigt, ist verrückt. Aber auch das gilt es anzuerkennen: Galen hat den mit Abstand effizientesten Widerstand gegen die Euthanasiemorde geleistet, aber eben aus Motiven, die uns heute weitgehend fremd sind, während sich Heinrich Himmler für die verbesserte Rechtsstellung nichtehelicher Kinder einsetzte und nichts gegen ein – heterosexuell – lockeres Leben hatte. Geschichte bietet eben keine einfachen Wahrheiten. Leider wird sie oft als identitärer Selbstbedienungsladen missbraucht.

Wie haben die nationalsozialistischen Führer auf Galen reagiert?

Aly: Die waren in diesem Moment sprachlos, gelähmt. Sie hatten Angst, die fundamentale Wucht der Galen-Predigten könnte ansteckend wirken. Sie stoppten die Morde von einem Tag auf den anderen, um sie ein halbes Jahr später unter weiter verschärften Kriegsbedingungen in diskreterer dezentraler Form fortzuführen. Man stelle sich vor, es hätte 20 Galens gegeben oder gar 200.

Sehen Sie noch grundsätzliche Forschungslücken mit Blick auf die NS-Zeit?

Aly: Ach – diese Forschungen gehen immer mehr in Details. Dann werde einzelne Firmen untersucht und sämtliche Bundesministerien mit ihren Vorläufern oder der BND. Die Ergebnisse liest keiner. Das ist so eine Art Ablasshandel: Unbegabte Historiker werden beschäftigt und begabte versauen sich in diesen Projekten das weitere Leben und Nachdenken. Die Frage, wie ein relativ normales Volk aus der Situation der Schwäche heraus mit dieser Führung und einer Verwaltung, in der 1933 wenig verändert worden ist, binnen zwölf Jahren den Holocaust und sehr viele andere entsetzliche Dinge hat anrichten können, werden mit solchen Fleißarbeiten nicht beantwortet.

Ihre jüngste Veröffentlichung  – Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten – ist dem Thema Raubkunst gewidmet. Ein Prachtboot aus der Kolonie Deutsch-Neuguinea steht dabei im Mittelpunkt, das Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin kam. Was soll mit den geraubten Dingen geschehen?

Aly: Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Aber die Menschen, die heute in Papua-Neuguinea leben und deren Vorfahren diese musealisierten Dinge genommen worden sind, hatten überhaupt keine Chance, sich in irgendeiner Weise konstruktiv an der Sache zu beteiligen. Da muss man zu einem Ausgleich finden.

Also Rückgabe an Papua-Neuguinea?

Aly: In den Museen Papua-Neuguineas finden sich zum Beispiel nur 190 Stücke aus der riesigen Region Manus, aus der auch das Prachtboot stammt. Allein in Deutschland gibt es mehr als 10.000 Objekte aus genau dieser Gegend. Das sollte nicht so bleiben. Aber wichtig wäre mir auch etwas anderes.

Nämlich?

Aly: Ich störe mich daran, dass wir alle Kulturen, die keine Schriftsprache haben, als „Naturvölker“ behandeln und sie deshalb der Völkerkunde, griechisch „Ethnologie“, zuschlagen. Das ist sehr fragwürdig. Wenn ich das Humboldtforum bestücken müsste, würde ich das Luf-Boot nehmen und es neben ein 2.400 Jahre altes griechisches Boot und ein Wikingerboot stellen und fragen: Was ist hier primitiver? Das Luf-Boot und dessen Vorgänger konnten nämlich schon vor Jahrtausenden gegen den Wind kreuzen und 5.000 Kilometer über das Meer fahren. Die Wikinger, Griechen, Phönizier und Römer kannten nur Treibsegel und Ruder – blieben also schiffsbautechnisch weit hinter den sogenannten Naturvölkern der Südsee zurück.

Sie selbst stammen aus einer Familie, in der sich deutsche Geschichte in vielfältiger Weise spiegelt. Was hat es mit dem königlich-preußischen Kammertürken Friedrich Aly auf sich?

Aly: Der kam Ende des 17. Jahrhunderts an den Hof des preußischen Kurfürsten, der dann bald König wurde. Kolonialisierungskritiker haben meinen Kammertürken als osmanisches Opfer vereinnahmt, das nach Berlin verschleppt worden sei. Fraglos ist er nach der Schlacht von Ofen, heute: Budapest, als menschliche Beute nach Berlin gebracht worden zusammen mit der Frau, mit der er dann verheiratet wurde. Aber was heißt Opfer? Man kann genauso gut fragen, was die Osmanen eigentlich vor Budapest und in Wien zu suchen hatten. Diese Gefangenen hatten Glück, weil man in den damaligen Kriegen selten Gefangene gemacht, sondern die Unterlegenen rücksichtslos niedergemetzelt hat. Mein osmanischer Vorfahre wurde am Hof sehr gut besoldet, erhielt ein eigenes Haus und seine Kinder wurden sofort Angehörige der höheren bürgerlichen Schichten.

Wann schreiben Sie ein Buch über die Geschichte Ihrer Familie?

Aly: Das habe ich nicht vor. Aber mir sind Studien im Familienarchiv, in Tagebüchern und Briefen methodisch wichtig. Sie verhelfen zu einem menschlicheren Blick auf die Geschichte.

Von Joachim Heinz (KNA)