Ein Jahr Münchner Missbrauchsgutachten: Ein Zwischenbilanz

Kein Beichtspiegel half bei der Gewissenserforschung. Anwälte listeten auf, was in der Erzdiözese München und Freising in Sachen Missbrauch seit 1945 schiefgelaufen ist. Und was sich ändern muss. Eine Zwischenbilanz.
Ein Jahr Münchner Missbrauchsgutachten: Ein Zwischenbilanz Kein Beichtspiegel half bei der Gewissenserforschung. Anwälte listeten auf, was in der Erzdiözese München und Freising in Sachen Missbrauch seit 1945 schiefgelaufen ist. Und was sich ändern muss. Eine Zwischenbilanz. München – Zumindest zwei Superlative kann das vor einem Jahr veröffentlichte Missbrauchsgutachten für die Erzdiözese München und Freising beanspruchen: Mit rund 1.900 Seiten ist die Arbeit der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) nicht nur die bisher umfangreichste ihrer Art in Deutschland, sondern auch die teuerste. 1,45 Millionen Euro wurden dem Auftraggeber in Rechnung gestellt. Bezahlt haben sie zum Großteil die Kirchensteuerzahler, denn beglichen wurde sie aus dem regulären Bistumshaushalt.

Kardinal Reinhard Marx. –Foto: rwm/Screeenshot

Zumindest zwei Superlative kann das vor einem Jahr veröffentlichte Missbrauchsgutachten für die Erzdiözese München und Freising beanspruchen: Mit rund 1.900 Seiten ist die Arbeit der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) nicht nur die bisher umfangreichste ihrer Art in Deutschland, sondern auch die teuerste. 1,45 Millionen Euro wurden dem Auftraggeber in Rechnung gestellt. Bezahlt haben sie zum Großteil die Kirchensteuerzahler, denn beglichen wurde sie aus dem regulären Bistumshaushalt.

Ob die Sache den Aufwand wert war, ist aber kein Thema. So gut wie verstummt ist auch die Debatte über die durchaus sehr unterschiedlichen Reaktionen der Kirchenverantwortlichen, denen im Gutachten Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchstätern aus ihrem Klerus attestiert worden war. Es war der hochbetagte Münchner Kardinal Friedrich Wetter (Erzbischof von 1982-2008), der als Einziger in seiner Wortmeldung detailliert ein persönliches Versagen einräumte.

In Wetters Amtszeit fiel die Entscheidung, den Wiederholungstäter Peter H. selbst nach einer rechtskräftigen Verurteilung durch das Amtsgericht Ebersberg erneut auf eine Pfarrgemeinde loszulassen. In Garching an der Alz reißt der Fall, der im WSW-Gutachten einen Sonderband füllt, bis heute Wunden auf. Sie wurden 2022 noch vertieft, als bekannt wurde, dass auch H.s Vorgänger ein Missbrauchstäter war, der über ausländische Umwege aus Eichstätt zeitweise nach Ostbayern gelangt war.

Wetter jedenfalls machte deutlich, dass seine Ignoranz damals nichts von seiner „undelegierbaren persönlichen Verantwortung“ nehme, die er nun einmal gehabt habe. Schließlich seien in der katholischen Kirche „die Vollmachten fast ausschließlich auf den Ortsbischof konzentriert“. Wörtlich sagte er: „meine falsche Entscheidung“.

Der nunmehr verstorbene ehemalige Papst Benedikt XVI. konnte sich dagegen nicht zu ähnlichen Aussagen durchringen. Stattdessen ließ Wetters Vorgänger im Amt des Erzbischofs von München und Freising es zu, dass sein Freundeskreis auch in den Wochen nach der Veröffentlichung des Gutachtens auf etlichen Kanälen die Verantwortung für die Münchner Missbrauchsfälle bestritt. Behauptet wurde, Joseph Ratzinger sei in solche Personalentscheidungen nicht eingebunden gewesen.

Kardinal Reinhard Marx erklärte, er schließe ein erneutes Rücktrittsgesuch an Papst Franziskus nicht aus – sollte er den Eindruck gewinnen, die weitere Aufarbeitung mehr zu behindern als zu befördern. Das ist bisher offenbar nicht der Fall. Und so blieb als einzige personelle Konsequenz aus dem Gutachten, dass der Münchner Prälat Lorenz Wolf seine Ämter als oberster Kirchenrichter des Erzbistums und als Leiter des Katholischen Büros Bayern verlor. Als Domdekan fungiert er weiterhin.

Kurz vor Weihnachten äußerte sich die Vorsitzende der Unabhängigen Aufarbeitungskommission. Michaela Huber bescheinigte der Erzdiözese eine konstruktive und kooperative Haltung. Reservierter klingt das Zwischenfazit aus dem Betroffenenbeirat. Dessen Sprecher Richard Kick vermisst weiter ein aktives Zugehen der Bistumsleitung auf Betroffene und Kirchengemeinden.

Inzwischen hat sich auch die Politik im Freistaat des Themas angenommen. So wurde im Landtag engagiert debattiert, ob nicht – zumindest in früheren Zeiten – Staatsanwälte und Gerichte zu große Beißhemmung gegenüber kirchlichen Tätern und deren Verantwortlichen an den Tag gelegt hätten.

Kick hofft inständig, dass die auch von den Gutachtern empfohlene unabhängige Ombudsstelle in Bayern bald vom Staat umgesetzt wird. Seine Gespräche mit Justizminister Georg Eisenreich (CSU) in der Angelegenheit seien vielversprechend verlaufen, lässt er wissen. Am 10. Januar waren alle sieben Sprecher der Betroffenenbeiräte aus den bayerischen Bistümern erstmals zu einem gemeinsamen Treffen mit Eisenreich in den Münchner Justizpalast geladen. Man habe sich gut verstanden, heißt es.

Und dann gibt es noch das Zivilverfahren vor dem Landgericht Traunstein. Ein mutmaßliches Opfer von Priester H. aus Garching an der Alz will gerichtlich klären lassen, ob auch ehemalige Münchner Erzbischöfe für den Schaden grundsätzlich haftbar zu machen sind, den ihre Priester durch sexuellen Missbrauch Minderjähriger angerichtet haben. Dass auf diesem Weg an sich verjährte Ansprüche geltend gemacht werden können, gilt zwar als ausgeschlossen. Dennoch wäre eine solche gerichtliche Feststellung ein Novum für die deutsche Justiz.

Am 17. Januar will sich die Münchner Bistumsleitung um Kardinal Marx zu den Fortschritten seit Erscheinen des Gutachtens äußern. Über seine Erfahrungen berichten wird dabei auch Pfarrer Kilian Semel, der selbst Missbrauch erlebt hat und inzwischen mit eigener Planstelle Betroffenen als Seelsorger zur Verfügung steht.

Von Christoph Renzikowski (KNA)

Wie Kirchenverantwortliche auf das WSW-Gutachten zum Missbrauch reagierten

Das am 20. Januar 2022 veröffentlichte Missbrauchsgutachten der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) kam zum Schluss, dass kirchliche Verantwortliche sich im Umgang mit Tätern und Betroffenen vielfach falsch verhalten haben. Daraufhin gab es persönliche Erklärungen dreier wichtiger Kirchenmänner – sie fielen sehr unterschiedlich aus. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert Schlüsselpassagen.

Kardinal Reinhard Marx (Münchner Erzbischof seit 2008) am 20. Januar 2022:

„(…) Ich bin erschüttert und beschämt. Für mich haben die Begegnungen mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs eine Wende bewirkt. Sie haben meine Wahrnehmung der Kirche verändert und verändern diese auch weiterhin. Wie ich immer wieder gesagt habe, fühle ich mich als Erzbischof von München und Freising mitverantwortlich für die Institution Kirche in den letzten Jahrzehnten. Als der amtierende Erzbischof bitte ich deshalb im Namen der Erzdiözese um Entschuldigung für das Leid, das Menschen im Raum der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten zugefügt wurde. (…)“

Am 27. Januar 2022:

„(…) Mir wird in diesem Gutachten Verantwortung zugeschrieben und ich bin bereit, Verantwortung zu übernehmen. Im letzten Jahr habe ich Papst Franziskus geschrieben und auch zuvor schon an anderer Stelle benannt, dass für mich die größte Schuld darin besteht, die Betroffenen übersehen zu haben. Das ist unverzeihlich. (…) Ich bitte auch die Gläubigen in diesem Erzbistum um Entschuldigung, die an der Kirche zweifeln, die den Verantwortlichen nicht mehr vertrauen können und in ihrem Glauben Schaden genommen haben. Auch die Pfarrgemeinden, in denen Täter eingesetzt wurden, haben wir zu lange nicht ausreichend im Blick gehabt und sie einbezogen. Auch bei Ihnen bitte ich um Entschuldigung. (…) Ich war und bin nicht gleichgültig. Hätte ich noch mehr und engagierter handeln können? Sicher ja!“ (…)

Ich klebe nicht an meinem Amt. Das Angebot des Amtsverzichtes im letzten Jahr war sehr ernst gemeint. Papst Franziskus hat anders entschieden und mich aufgefordert, meinen Dienst verantwortlich weiterzuführen. Ich bin bereit, auch weiterhin, meinen Dienst zu tun, wenn das hilfreich ist für die weiteren Schritte, die für eine verlässlichere Aufarbeitung, eine nochstärkere Zuwendung zu den Betroffenen und für eine Reform der Kirche zu gehen sind. Falls ich den Eindruck gewinnen sollte, ich wäre dabei eher Hindernis als Hilfe, werde ich das Gespräch mit den entsprechenden Beratungsgremien suchen und mich kritisch hinterfragen lassen. In einer synodalen Kirche werde ich diese Entscheidung nicht mehr mit mir allein ausmachen. (…)“

Kardinal Friedrich Wetter (Münchner Erzbischof von 1982 bis 2008) am 25. Januar 2022:

Erklärung: „Als Erzbischof em. entschuldige ich mich aufrichtig für alles Geschehene und für meine falsche Entscheidung im Fall Pfarrer H. im Hinblick auf den Einsatz in der Seelsorge. Dass ‚historisch‘ betrachtet der Wissensstand vor 40 Jahren zur Therapierbarkeit eines Täters noch optimistischer war, dass man die Opfer sowie die betroffenen Familien und Pfarreien zu wenig oder nicht gehört hat und dass man der Kirche nicht schaden wollte, sind Fehler, die nicht mehr begangen werden dürfen. Es tut mir von Herzen leid, was in meiner Amtszeit so nicht erkannt wurde. Mit dem Wissen von heute hätten ich und weitere Verantwortungsträger im Erzbistum sicherlich anders gehandelt. In der gesamten Kirche ist eine Selbstreinigung im Gang, die mit einem Schuldbekenntnis beginnt, wie wir das als Gläubige für unsere ‚Gedanken, Worte und Werke‘ in der Eucharistiefeier von Gott und den Menschen erbitten.“

Stellungnahme: „(…) Natürlich war auch in den 1980er und 1990er Jahren sexueller Missbrauch von Kindern strafbewehrt und moralisch inakzeptabel. Ehrlicherweise muss ich allerdings sagen, dass ich vor 2010 nicht genügend Wissen hatte und mein Problembewusstsein nicht genügend ausgebildet war. Dass dies damals bei vielen in der Gesellschaft, nicht nur in der Kirche, so war, macht mein unangemessenes und objektiv falsches Verhalten von damals zwar für mich verständlicher, kann es aber nicht rechtfertigen. (…)

Als H. Garching verließ, war ich froh, dass kein Missbrauch geschehen war. Der aufsichtsführende Dekan hat mir das ausdrücklich bestätigt. Erst durch die jüngsten Untersuchungen erfuhr ich, dass das nicht stimmt und H. rückfällig geworden ist. Warum hat mir das niemand gesagt? Ich gehe jedenfalls davon aus, dass ich mit dieser Kenntnis H. sofort aus dem Dienst der Diözese entlassen und weggeschickt hätte. Es tut mir wegen der Missbrauchsopfer in Garching, aber auch im Blick auf die indirekt betroffenen Gemeinden aufrichtig leid, dass ich als Kind meiner Zeit und mit meinen begrenzten Vorerfahrungen mit einem völlig unzureichenden Problembewusstsein im Fall H. falsch entschieden habe. Denn hätte ich anders entschieden, hätte es zu diesen Missbräuchen nicht kommen können. (…)

Durch Theologie und Kirchenrecht sind in der katholischen Kirche die Vollmachten fast ausschließlich auf den Ortsbischof konzentriert. Dem entspricht eine undelegierbare persönliche Verantwortung. Für meinen Anteil an dem unzureichenden Umgang im Falle H., aber auch mit anderen Anzeigen und Missbrauchsfällen in meiner Amtszeit muss ich deshalb auch persönlich Verantwortung übernehmen und bitte ich um Entschuldigung.“

Benedikt XVI. (Münchner Erzbischof von 1977 bis 1982) in einem Brief an sein früheres Erzbistum am 6. Februar 2022:

„Es berührt mich immer stärker, daß die Kirche an den Eingang der Feier des Gottesdienstes, in dem der Herr uns sein Wort und sich selbst schenkt, Tag um Tag das Bekenntnis unserer Schuld und die Bitte um Vergebung setzt. Wir bitten den lebendigen Gott vor der Öffentlichkeit um Vergebung für unsere Schuld, ja, für unsere große und übergroße Schuld. Mir ist klar, daß das Wort ‚übergroß‘ nicht jeden Tag, jeden einzelnen in gleicher Weise meint. Aber es fragt mich jeden Tag an, ob ich nicht ebenfalls heute von übergroßer Schuld sprechen muß. Und es sagt mir tröstend, wie groß auch immer meine Schuld heute ist, der Herr vergibt mir, wenn ich mich ehrlich von ihm durchschauen lasse und so wirklich zur Änderung meines Selbst bereit bin.

Bei all meinen Begegnungen vor allem auf mehreren Apostolischen Reisen mit von Priestern sexuell mißbrauchten Menschen habe ich den Folgen der übergroßen Schuld ins Auge gesehen und verstehen gelernt, daß wir selbst in diese übergroße Schuld hineingezogen werden, wenn wir sie übersehen wollen oder sie nicht mit der nötigen Entschiedenheit und Verantwortung angehen, wie dies zu oft geschehen ist und geschieht. Wie bei diesen Begegnungen kann ich nur noch einmal meine tiefe Scham, meinen großen Schmerz und meine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Mißbrauchs zum Ausdruck bringen.

Ich habe in der katholischen Kirche große Verantwortung getragen. Umso größer ist mein Schmerz über die Vergehen und Fehler, die in meinen Amtszeiten und an den betreffenden Orten geschehen sind. Jeder einzelne Fall eines sexuellen Übergriffs ist furchtbar und nicht wieder gut zu machen. Die Opfer von sexuellem Mißbrauch haben mein tiefes Mitgefühl und ich bedauere jeden einzelnen Fall. (…)

Ich werde ja nun bald vor dem endgültigen Richter meines Lebens stehen. Auch wenn ich beim Rückblick auf mein langes Leben viel Grund zum Erschrecken und zur Angst habe, so bin ich doch frohen Mutes, weil ich fest darauf vertraue, daß der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitten hat und so als Richter zugleich auch mein Anwalt (Paraklet) ist. Im Blick auf die Stunde des Gerichts wird mir so die Gnade des Christseins deutlich. Es schenkt mir die Bekanntschaft, ja, die Freundschaft mit dem Richter meines Lebens und läßt mich so zuversichtlich durch das dunkle Tor des Todes hindurchgehen. (…)“

Redaktioneller Hinweis: – Benedikt XVI. bediente sich bis zu seinem Tod konsequent der alten Rechtschreibung.