Wo Macht ausgeübt wird, da lauert die Gefahr ihres Missbrauchs – auch im religiösen Zusammenhang. Eine Studie hat sich nun mit Übergriffen im spirituellen Bereich beschäftigt.
Freiburg – Eindeutige Antworten auf jede noch so schwierige Frage, die Welt glasklar in schwarz und weiß gezeichnet: Die Rede ist von neuen geistlichen Gemeinschaften im Raum der katholischen Kirche. Mit den von diesen Gruppen ausgehenden Gefahren hat sich die Therapeutin und Lebensbeberaterin Stephanie Butenkemper in einem im Herder-Verlag erschienenen Buch befasst. Es trägt den Titel „Toxische Gemeinschaften“.
Der früher in Medizin und Biologie verwendete Begriff für „giftig“ hat sich umgangssprachlich als Wort für gefährliches und schädigendes Verhalten durchgesetzt. Was aber macht die neuen geistlichen Gemeinschaften, die von manchen deutschen Bischöfen kritisch beäugt und von anderen hofiert werden, zu gefährlichen Orten?
Butenkemper, selbst ehemaliges Mitglied einer solchen Gemeinschaft, hat dafür mit acht Aussteigern gesprochen und stellt auf dieser Grundlage Kriterien für das Phänomen vor, das als sogenannter geistlicher Missbrauch bezeichnet wird. Gemeint ist laut Butenkemper emotionaler Machtmissbrauch im religiösen Zusammenhang, der oft, aber nicht immer, den Boden für spätere sexuelle Übergriffe bereitet. Täter manipulierten Betroffene nach ihren Bedürfnissen. Folgen können etwa eine zerrüttete Religiosität, psychische Erkrankungen, emotionale und soziale Probleme sein.
Das Phänomen sei keineswegs neu und auf neue geistliche Gemeinschaften beschränkt, führt die Autorin aus, die Mitglied im Arbeitskreis „Spiritueller Missbrauch“ im Bistum Dresden-Meißen ist. Jene Gemeinschaften seien jedoch besonders anfällig, weil sie auf sektenähnlichen Strukturen aufbauten.
So überschritten neue geistliche Gemeinschaften Grenzen des Privaten und mischten sich in alle Lebensbereiche ein; zugleich kontrollierten sie ihre Mitglieder, deren soziales Umfeld und letztlich auch ihr Denken und Verhalten. Die Gemeinschaft und ihre Leiter würden idealisiert, weil sie angeblich eine besondere Beauftragung durch Gott hätten, und dürften daher nicht hinterfragt werden. Zugleich werde das einzelne Mitglied entwertet und müsse lernen, dass die eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht zählten.
„Die Gemeinschaft macht das Angebot, für ihre Mitglieder zu einer Art Familienersatz zu werden“, so Butenkemper. Sie sieht darin den Dreh- und Angelpunkt für Missbrauch. Insbesondere jüngere Menschen, die auf der Suche nach Gott und Stabilität seien, schwierige Erfahrungen in ihren Familien gemacht hätten, fänden hier Halt. Der dichte Sog, den die Gemeinschaften entwickelten, sei vergleichbar mit dem Gefühl der Verliebtheit, so die Autorin. Einmal drin, sei der Ausstieg für viele fast unmöglich.
Denn die Leitungen kontrollierten – ob vorsätzlich oder nicht – das Bewusstsein ihrer Mitglieder, wie es sonst aus Sekten und autoritären Regimen bekannt sei. Schritt für Schritt schafften sie eine „Gedankenpolizei“, entwickelten Systeme gegenseitiger Kontrolle, vermittelten, die eigenen Bedürfnisse dem großen Ganzen – etwa der Bekehrung der Welt – unterzuordnen, kreierten eine eigene Sprache, unterteilten die Umwelt in Gut und Böse, erzeugten Schuldgefühle und zwängen dazu, das Innenleben einer großen Gruppe offenzulegen.
„Ziel ist die Umgestaltung des Charakters und der Identität einer Person“, schreibt die Autorin. All dies werde mit Gott und der einzig richtigen Auslegung seiner Botschaft begründet. Letztlich werde so eine von der Gesellschaft abgehobene Gruppe geschaffen, die sogar zu wissen meine, welches Leben in den Augen Gottes eine Existenzberechtigung habe – und welches nicht. Wer aussteigen wolle, dem drohten große Verlustängste, weil die Gemeinschaft alle Bereiche des Lebens kontrolliere.
Dabei handelt es sich nicht um Einzelphänomene. Butenkemper verweist auf Gemeinschaften wie Totus Tuus und die Integrierte Gemeinde, die nach entsprechenden Vorwürfen von Bischöfen aufgelöst wurden. Sie erinnert an den Gründer der Legionäre Christi, Marcial Maciel Degollado (1920-2008), eine der dunkelsten Figuren in der jüngeren Kirchengeschichte. Um ihn entspann sich ein Personenkult sondergleichen, zugleich missbrauchte er jahrelang dutzende Menschen.
Die Autorin warnt jedoch auch davor, Gemeinschaften und ihre Leiter unter Generalverdacht zu stellen und verweist auf positive Seiten von Glaubensgemeinschaften. Sie zeigt auf, dass emotionaler Machtmissbrauch fast überall geschehen kann – etwa auch in der Klimabewegung. Gleichzeitig ermutigt sie die katholische Kirche, sich mit den Phänomen mehr auseinanderzusetzen – und bietet Angebote dafür, wie Konzepte für eine Prävention und die Begleitung von Aussteigern aussehen können.