Für Clemens Graf von Hoyos ist der Trend zum Duzen eine jahrzehntelange Entwicklung. Der Knigge-Experte ist sich sicher, dass das „Du“ auch etwas suggerieren kann, was gar nicht da ist.
Bonn – Wir leben in einer Kultur des Duzens: ob in den sozialen Netzwerken, am Arbeitsplatz oder im Radio. Das „Du“ ist mittlerweile fester Bestandteil der Alltagskommunikation. Und sogar dort gang und gäbe, wo es früher nicht denkbar gewesen wäre; etwa beim Einkaufen oder in der Werbung. Für Knigge-Experte und Business-Etikette-Trainer Clemens Graf von Hoyos ist das die Folge einer Entwicklung, die bereits vor Jahrzehnten eingesetzt hat. Der Trend könnte sich aber auch wieder ändern, sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Dabei ist die Abgrenzung zwischen dem „Du“ und „Sie“ kein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Sprache. Das hat eine Analyse des World Atlas of Language Structures (WALS) ergeben. Demnach wird in mehr als der Hälfte der 207 untersuchten Sprachen keine Unterscheidung zwischen dem Duzen und Siezen getroffen. Zu diesen Sprachen zählt beispielsweise das Englische. 49 Sprachen weisen, wie das Deutsche, ein binäres System auf. Mehr als ein Dutzend Sprachen haben ein komplexeres Höflichkeitssystem.
Umgangsformen unterlagen laut Hoyos schon immer Wellenbewegungen
„Vor rund 200 Jahren hat man es noch möglichst vermieden, das Gegenüber überhaupt mit einem Pronomen anzusprechen“, sagte Hoyos, der seit knapp zehn Jahren Vorsitzender der Deutschen-Knigge-Gesellschaft ist. „Ich hoffe, Ihre Hochwohlgeboren haben gut geschlafen“, hieß es damals. Daraus wurde dann „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Herr Mustermann“ und schließlich „Ich hoffe, Du hast gut geschlafen“. Drehe man diese Entwicklung weiter, könnte es sein, dass irgendwann gar nicht mehr mit Namen und Anrede hantiert werde. Die Frage würde dann lauten: „Jo, Diggi, gut geschlafen?“
Vor dem Hintergrund einer Sprache, die auch nichtbinäre Personen mitdenkt, – also diejenigen, die sich nicht den Kategorien von Mann und Frau zuordnen, – könnte sich Hoyos auch vorstellen, dass irgendwann auf entsprechende Zusätze verzichtet werde. In Mails könnte das etwa so aussehen: „Guten Tag, Erika Mustermann.“ Es gehe in der Kommunikation vorwiegend darum, sich auf andere Personen einzustellen.
Umgangsformen unterlagen laut Hoyos schon immer Wellenbewegungen. Ausgeschlossen sei es jedenfalls nicht, dass das Siezen in den kommenden zwei Jahrzehnten wieder prominenter werde. Hoyos verweist auf den Philosophen Arthur Schopenhauer, der 1851 in seiner Parabel der Stachelschweine folgendes Phänomen beschrieb: An kalten Wintertagen drängen sich die Tiere recht nah zusammen, um sich zu wärmen. Sobald sie zusammenrücken, piksen sie sich jedoch und gehen wieder auf Distanz. Ähnlich könnte es sich, so Hoyos, mit der Anrede verhalten: Es sei immer ein Ringen um Nähe und Distanz.
Unterhaltungsbranche begründet das Duzen mit dem Wunsch nach Zusammengehörigkeit
Vor allem in der Unterhaltungsbranche wird das Duzen mit dem Wunsch nach Zusammengehörigkeit begründet. Seit Monaten geht etwa der Hörfunksender WDR 2 verstärkt dazu über, die Hörerinnen und Hörer zu duzen. Der Gedanke dahinter: das Community-Gefühl zu stärken und Menschen enger an den Sender zu binden, sagte eine Sprecherin dem Onlinemagazin DWDL.de.
Für Hoyos ist das eine nachvollziehbare Überlegung. Bindung hänge maßgeblich davon ab, was Menschen zusammen erlebt und durchlebt hätten. Da Radiohören eher ein passiver Vorgang sei, könne er den Schritt zum sprachlichen Zusammenrücken nachvollziehen; zwangsweise notwendig sei er aber nicht.
Für den einen ist das Duzen dem Experten zufolge eine vertrauensvolle Kommunikation auf Augenhöhe, für den anderen eine Grenzüberschreitung. Dafür brauche es immer auch Feingefühl, mahnt der Experte. In jedem Fall gelte: einmal Du, immer Du. Er selbst sei deshalb kein Fan von sogenannten Golfplatz- oder Workshops-Dus. Dass viele Möbelhäuser oder Konzerne ihre Kundinnen und Kunden duzten, bei Mahnungen hingegen wieder zum „Sie“ wechselten, sei „gegen jede Etikette und einfach nur schlechter Stil“.
In jedem Fall gilt: einmal Du, immer Du
Besonders am Arbeitsplatz dürfe man sich von einer Kultur des Duzens nicht täuschen lassen, betont Hoyos. Oft werde dadurch suggeriert, dass in einem Unternehmen besonders flache Hierarchien herrschten, – obwohl das nicht der Fall sei. „Kultur fängt im Kopf an und ist keine Frage des Duzens oder des Krawatte-Tragens.“