Sehen und erleben, was alles möglich ist

In der katholischen Akademie Die Wolfsburg tankten Gottesdienstgestaltende viele neue Ideen für den Gemeindealltag.
Sehen und erleben, was alles möglich ist

Die Akademiekirche der Katholischen Akademie Die Wolfsburg. –Foto: Emons

Mülheim – „Öffentlicher Dienst“ oder: „Gemeindedienst“. Das bedeutet Liturgie in seinem altgriechischen Wortsinn. Doch was bedeutet Liturgie heute, da wir in einer zunehmend weniger christlich sozialisierten Gesellschaft leben, in der sich die katholische Kirche, vor allem durch die sexuellen Missbrauchsfälle im Priesteramt in einer akuten Glaubwürdigkeits- und Existenzkrise befindet? Dieser Frage widmeten sich jetzt 30 engagierte Laien und Priester, die in ihren Gemeinden Gottesdienste zeitgemäß gestalten wollen, um die Frohe Botschaft an Frau, Mann und Kind zu bringen.

Bezeichnend war eine Resonanz aus dem Kreis der Tagungsteilnehmenden, die, moderiert vom Theologen Dr. Jens Oboth, zwei Tage lang in der katholischen Akademie das Für und Wider sowie das Mit- und Nebeneinander traditioneller und innovativer liturgischer Formen beleuchtet hatten. Während ein Mann den Hinweis darauf vermisst hatte, wo denn die Grenzen der liturgischen Freiheit seien, lobte eine Frau die Liturgie-Tagung der Wolfsburg vor allem dafür, „dass wir hier gesehen und erlebt haben, was alles möglich ist.“

Austausch der Gläubigen anstatt Predigt

Was liturgisch möglich ist, um einen Gottesdienst interaktiv, auf Augenhöhe und damit individuell inspirierend und stärkend zu feiern, zeigte der Essener Domkapitular und Cityseelsorger Bernd Wolharn mit dem Zelebrieren eines Abendgottesdienstes in der ellipsenförmigen Akademiekirche, in der sich die Gemeindemitglieder gegenübersitzen und Altar und Ambo gegenüberstehen. 

Wolharn, der auch in der Touristenseelsorge aktiv ist, begann den Gottesdienst, indem er die Teilnehmenden einlud, sich ihrem Nebenmann oder ihrer Nebenfrau vorzustellen. Der Lesung und dem Evangelium folgte keine Predigt. Stattdessen verteilte Wolharn den Evangeliumstext und lud die Teilnehmenden dazu ein, sich über den biblischen Text und was er für sie bedeute, auszutauschen. 

Bei den Fürbitten waren alle Teilnehmenden des Gottesdienstes eingeladen, ihre ganz persönlichen Bitten vorzutragen, die dann von der Gemeinde mit dem Liedrefrain „Alle Sorgen werft auf ihn. Denn er sorgt für euch!“ beantwortet. Auch bei der Eucharistie stand nicht der Priester, sondern die Gottesdienstgemeinde im Mittelpunkt. Sie nahm sich Zeit für Wein und Brot, indem jeweils zwei Gemeindemitglieder an den Altar herantraten und sich gegenseitig Wein und Hostie reichten. Das war für den traditionell geprägten Gottesdienst ungewohnt und offenbarend zugleich. 

Bernd Wolharn wies im Gespräch nach dem Gottesdienst den Eindruck zurück, dass eine solch interaktive Gestaltung des Gottesdienstes nur in kleinen und theologisch gebildeten Gruppen möglich sei. „In einer vergleichbaren Form habe ich diesen Gottesdienst auch schon mit 15.000 Teilnehmenden gefeiert“, betonte der Domkapitular und City-Seelsorger.

Interaktiv und auf Augenhöhe

Eine Liturgie ohne Hierarchie und stattdessen interaktiv und auf Augenhöhe gestaltet, die die Menschen im Gottesdienst in ihrem Alltag abholt und sie nicht nach dem Motto behandelt: „Da vorne steht einer, der alles regelt!“, waren denn auch die zentralen Forderungen, die die Referenten der Tagung aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus formulierten. „Wir brauchen in der katholischen Einheit auch bei der Liturgie eine Vielfalt, die eine Sprache und Zeichen verwendet, die Menschen heute verstehen können“, sagte zum Beispiel der Bonner Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards.

Einen bemerkenswerten Vergleich zwischen Liturgie und Theater zog der Generalintendant des Gelsenkirchener Musiktheaters, Michael Schulz, indem er feststellte: „Liturgie ist kein Theater und Theater ist kein Gottesdienst. Aber in beiden Fällen geht es um die Inszenierung von Brauch, Sitte, Ritus, Geheimnissen und Emotionen. Dabei stehen wir den Folgen einer Bildungsmisere gegenüber, die dazu führt, dass wir das Verständnis von Zeichen, Formen und Begriffen beim Publikum voraussetzen und ihm deshalb auch nicht einfach etwas vorsetzen können, was es nicht sehen will.“

Kontrovers diskutiert wurde darüber, ob man Gottesdienste in Zweifelsfall proben soll oder ob eben dies der Liturgie ihre Authentizität nimmt. Eine Teilnehmerin der Tagung zog den bildhaften Vergleich zwischen einem Opern- und einem Gottesdienstbesuch, der in beiden Fällen eine inhaltliche Vorbereitung sinnvoll mache. Auch Cityseelsorger Bernd Wolharn plädierte für eine „bessere liturgische Bildung in den Gemeinden.“ Darüber hinaus erkennt er die Notwendigkeit, „dass wir unsere kirchlichen Orte mit Leben füllen und stärker profilieren müssen.“ Nach seiner Ansicht müssen Pfarrgemeinden heute erkennen, dass wir nicht mehr an allen Orten alles vorhalten können, sondern, dass die Menschen wissen müssen: In dieser Gemeinde steht die Diakonie im Vordergrund, während in einer anderen vielleicht die kulturell anspruchsvolle Gottesdienstgestaltung gepflegt wird und in wieder einer anderen gute Kinder,- Jugend- und Familiengottesdienste gefeiert werden.“

Kleines Einmaleins der virtuellen Spiritualität

Mit seiner Aufforderung: „Bitte, bestätigen Sie mit Amen!“, hatte der via Zoom-Videokonferenz zugeschaltete Tobias Aldinger vom Seelsorgeamt des Erzbistums Freiburg, die Lacher auf seiner Seite, als er sein analog sozialisiertes Auditorium mit dem kleinen Einmaleins der virtuellen Spiritualität und Liturgie einführte. Aldinger betreibt zusammen mit zwölf Kolleginnen und Kollegen das ökumenisch aufgestellte und finanzierte Projekt der Netzgemeinde Dazwischen, die die technischen Möglichkeiten der Messenger Dienste, der Chaträume und der Virtuellen Räume, die man mit Hilfe einer Virtuellen-Realitäts-VR-Brille betreten kann, digitale Seelsorge und Evangelisierung leistet. 

Auch wertkonservative Liturgiker konnten sich Aldingers Praxis-Beispielen und deren Logik nicht ganz entziehen. So konnte Aldinger zeigen, wie man zum Beispiel in Zoom-Gottesdiensten Glaubensgemeinschaft und Dialogräume schaffen kann. Das gemeinsame Gebet und den Gedankenaustausch im Chatraum verglich Aldinger mit der sehr individuellen und trotzdem gemeinschaftsbildenden Tradition des klösterlichen Stundengebets. Auch sein Hinweis, dass die Anonymität der Netzgemeinde eine positiv wirksame individuelle Niederschwelligkeit mit sich bringe, konnte man angesichts seiner vorgeführten Beispiele nicht von der Hand weisen.

Thomas Emons

Informationen zur Netzgemeinde und Tobias Aldinger sind unter unter: www.netzgemeinde-dazwischen.de zu finden.