Der absehbare Verlust einer christlichen Mehrheit in Deutschland wird nach Ansicht der Münchner Historikerin Hedwig Richter die Gesellschaft grundsätzlich verändern.
Berlin – Der absehbare Verlust einer christlichen Mehrheit in Deutschland wird nach Ansicht der Münchner Historikerin Hedwig Richter die Gesellschaft grundsätzlich verändern. Richter sprach am Montag in Berlin von einer „schleichenden Zeitenwende“, die aber eigentlich „unwahrscheinlich dramatisch“ sei. Dabei verwies sie auf den Beitrag der Kirche zur Demokratie, das ehrenamtliche Engagement oder die gesellschaftspolitische Verantwortungsübernahme.
Richter äußerte sich bei einer Tagung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU). Die Studie konstatiert einen rapiden Schwund der Kirchenzugehörigkeit. Nach den Worten des evangelischen Kirchenpräsidenten, Volker Jung, haben die Kirchen dennoch weiter wesentliche gesellschaftliche und politische Relevanz. So würden von ihnen Stellungnahmen etwa zu ethischen, sozialen oder umweltpolitischen Themen erwartet. Zudem seien sie wesentlich für die Stabilisierung von Gesellschaft und Demokratie.
Edgar Wunder vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD verwies in diesem Zusammenhang auf Ergebnisse der KMU-Studie, wonach die soziale Reichweite der Kirchen höher sei als die religiöse. So seien die Kirchen als zivilgesellschaftliche Akteure weiter „hoch willkommen“. Hier gebe es auch keinen „Trend die Kirchen rausdrängen zu wollen“.
Auch der religionspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Nordrhein Westfälischen Landtag, Sven Wolf, betonte, dass Kirche im politischen Betrieb immer noch „ein sehr wichtiger Berater“ sei. Das gehe weit über einen politischen Lobbyismus hinaus, da sich die Kirche um die gesamte Gesellschaft sorge. Das betreffe eine Vielzahl an Themen, von der Kita über die Gefangenenseelsorge bis zum Umgang mit Menschen in Katastrophen. „Wir brauchen die Kirche gerade in ganz schwierigen gesellschaftlichen Situationen“, so Wolf.
Die Tübinger katholische Dogmatikerin Johanna Rahner unterstrich den Einfluss der Kirchen auf die „Demokratiefähigkeit“. Als Christ könne man „nicht antidemokratisch sein“, betonte Rahner. Das gehe schon aus dem christlichen Menschenbild hervor. Die Kirche müsse mit diesem Potenzial auch in der Gesellschaft einstehen. Sie wandte allerdings kritisch ein, dass die Kirche dabei nur glaubwürdig sein könne, wenn sie die Demokratie auch innerkirchlich lebe.
Rahner konstatierte zugleich eine „Drift in die Deinstitutionalisierung und Individualisierung“, die es langfristig schwierig mache, das bisherige Staat-Kirchverhältnis zu erhalten. Sie warnte aber davor, das Modell voreilig infrage zu stellen. Es dürfe „nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden“.