…den Mut – wie Thomas zu bleiben, zu seinem Unglauben zu stehen, seine Wunden zu zeigen.

Thomas glaubt erst, als er Jesu Wunden sieht. Er möchte selbst erfahren, begreifen, erleben. Foto: © Jozef Sedmak/dreamstime.com
Umgeben von vielen fühle ich mich dennoch verlassen und allein. Die Begeisterung der anderen erreicht mich nicht. Ich bin da und gedanklich doch weit weg. Mitsingen fällt mir schwer. Vertrautes wirkt fremd. In meinem Kopf zu viele Fragezeichen …
Ja, so ist meine Erinnerung an damals – 1984. Einige Monate nach dem Tod meines Vaters sitze ich Sonntag für Sonntag im Gottesdienst und bin doch innerlich unbeteiligt und leer.
In dieser Zeit wird Thomas, der Didimus, mein Vertrauter, mein Verbündeter – mein Zwillingsbruder. Als ich im Gottesdienst seine Geschichte höre, kann ich auf einmal wieder atmen. Da ist einer, umgeben von Glaubenden, ungläubig – jenseits der österlichen Begeisterung. Einer, der etwas verpasst hat, der nicht dabei war, der nur die Lücke, den Verlust, die Trauer spürt. Und dann: einer, der trotz allem bleibt. Der TROTZIG da bleibt. Der nicht weggeht oder einfach nicht mehr kommt. Nein, Thomas, der Didimus, bleibt. Genauso, wie ich damals. Vielleicht auch, weil er genauso wie ich, gar keine andere Heimat hatte, keine anderen, die so vertraut waren. Vielleicht, weil seine Füße ihn ganz von allein, in diese Runde führten. Weil er gar keine Kraft hatte, sich in all der Trauer und Unsicherheit auch noch neue Freundinnen und Freunde zu suchen. Vielleicht … wer weiß …
Und so höre ich auch, wie Thomas, der Didimus, Zwillingsbruder und Vertrauter, kein Stummer bleibt. Er benennt, was er zum Glauben braucht. Wie befreiend. Einer, der da ist, da bleibt – mitten unter den Zeuginnen und Zeugen der Auferstehung – und offen von seinem Nicht-Glauben spricht. Sich nicht zurückzieht. Sich nicht abfindet. Dem der Glaube, der anderen nicht ausreicht. Der selber erfahren, begreifen, erleben will.
Und sein Bleiben wird „belohnt“. Der Auferstandene kommt für ihn, zu ihm. Wie wunderbar. Wie gütig. Was für eine Freude.
Und dann der Satz, der mich so viele Jahre zurückschrecken ließ: „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.“ Ich spüre inneren Widerstand. Diese Zurückweisung, Belehrung, Relativierung hat „mein Thomas“ nicht verdient.
Viele Jahre erzähle ich die biblische Geschichte ausgehend von meiner eigenen Erfahrung als 13-jähriges Mädchen mit diesem Schwerpunkt: Da ist einer, der bleibt, obwohl er nicht glaubt und bekommt gerade dadurch die Chance zu sehen und zu glauben.
40 Jahre später – 2024 – will ich die Herausforderung noch einmal neu hören: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt so: „Glücklich sind, die nicht sehen und trotzdem glauben.“
Und so höre ich heute: Du darfst glücklich sein, gelassen, frei. Du musst nicht traurig bleibt. Du darfst dazugehören, mit allen Fragen und allen Zweifeln. Du darfst trotz-dem glauben. Das heißt auch: trotzig, unsicher.
Und ich frage mich: Welche Bedeutung haben meine eigenen Wunden in der Nachfolge Jesu? Können meine eigenen Wunden zu Zeugen des österlichen Wunders werden? Bin ich bereit, meine Wunden zu zeigen, so wie Jesus damals, damit andere sehen und erfahren können, dass die göttliche Liebe Wunden heilt, neues Leben schenkt, Dunkelheit überwindet und Glücklichsein ermöglicht? Bin ich bereit, so wie Thomas, der Didimus, damals für mich ein Vertrauter war, selbst zu einer Vertrauten, einer Zwillingsschwester für andere zu werden?
Das österliche Geheimnis braucht diesen Thomas-Mut. Mut zu bleiben, zu seinem Unglauben zu stehen, Mut nach den Wunden zu fragen, seine Wunden zu zeigen und trotzig trotzdem glücklich zu sein.