„Spielt, lernt und wachst zusammen“

Salma muss als Teppichknüpferin arbeiten. (Foto: © Bettina Flitner/Kindermissionswerk)

Mit neun Jahren begann Salma mit dem Teppichknüpfen. Damals hatte ihre älteste Schwester geheiratet und war von zu Hause ausgezogen. Salma übernahm ihren Platz am Webrahmen. Seither arbeitet das Mädchen gemeinsam mit ihrer Mutter Mariam und ihren älteren Geschwistern täglich im Innenhof des Familienhauses. „Montags bis samstags arbeite ich den halben Tag, sonntags den ganzen Tag“, erzählt sie. Auf einer schmalen Holzbank sitzt Salma hinter einem riesigen Knüpfstuhl aus Metall. Von hier aus sieht sie die Welt durch einen dichten Vorhang aus Fäden. Geschickt arbeitet sie sich Knoten für Knoten von links nach rechts. „Ich kann schneller knüpfen als meine Mutter“, sagt sie stolz.

Nach jedem fertigen Knoten ist ein leises Zischen zu hören, wenn Salma mit ihrem sichelförmigen Messer blitzschnell den überstehenden Faden abschneidet. Von der Arbeit hat Salma Hornhaut an den Fingern. Manchmal verletzt sie sich auch mit dem Teppichmesser. Vor Salma auf dem Boden liegt ein detailliertes Knüpfmuster, aus dem sie abliest, wann sie welche Wollfarbe verwenden muss. Täglich wächst ihr Werk mehrere Zentimeter in die Höhe, bis nach rund zwei Monaten ein mehrere Meter großer Teppich entstanden ist. Dann kommt die schönste Zeit für Salma: Zeit zum Spielen mit ihren Freundinnen. Zwei bis drei Tage dauert es, bis ein neuer Webrahmen aufgezogen ist. Dann beginnt die Arbeit von vorne.
Salmas Alltag gleicht dem von rund 200000 Mädchen und Jungen im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, die täglich als Teppichknüpfer arbeiten. Indien ist der weltgrößte Exporteur von handgewebten Teppichen. 80 Prozent aller Teppiche werden nicht in Fabriken, sondern in Privathaushalten hergestellt. Viele Kinder erleiden durch die Arbeit an den Webstühlen dauerhafte Gesundheitsschäden: Die Wollfasern belasten ihre Atemwege, die Chemikalien zur Behandlung der Garne führen manchmal zu Vergiftungen, die lange Arbeit in gebeugter Haltung beeinträchtigt Muskeln und Knochen. Nur jedes dritte Kind, das in der Teppichindustrie arbeitet, besucht eine Schule.
Doch Salma hat Glück, denn neben der Arbeit kann sie auch zur Schule gehen und hat sogar noch etwas Zeit zum Spielen. „Das Lernen macht mir viel mehr Spaß als das Teppichknüpfen“, sagt sie. Vor zwei Jahren kamen die Mitarbeiter der Vikas-Stiftung zum ersten Mal nach Milik. „Wir sind von Tür zu Tür gegangen und haben unsere Arbeit vorgestellt“, erzählt Dilip Sevarthi, Gründer der Vikas-Stiftung. „Auf dem Dorfplatz haben wir ein Theaterstück über Kinderarbeit aufgeführt.“
So konnte er auch Salmas Eltern überzeugen, ihre Tochter zur Schule zu schi­cken. Seitdem besucht Salma jeden Morgen den Unterricht und arbeitet nur noch nachmittags. Im Freien – zwischen Knüpfrahmen, Tieren und Kuhdung-Lagern – findet von montags bis samstags der Unterricht statt. Eine Lehrerin unterrichtet die Mädchen im Dorf für je drei Stunden. Gelernt wird im Schneidersitz auf dem Boden. Die Schultaschen, die mit Hilfe des Kindermissionswerks „Die Sternsinger“ angeschafft wurden, dienen als Schreibunterlage. „Play, learn & grow together“ – „Spielt, lernt und wachst zusammen auf“, steht in bunten Buchstaben auf Salmas Schulheft geschrieben. Englisch und Hindi sind ihre Lieblingsfächer. Salma hat auch schon einen Berufswunsch: „Später möchte ich Lehrerin werden.“

Ein Kinderparlament macht sich für Kinderrechte stark

Einmal im Monat trifft sich Salma mit allen Jungen und Mädchen in Milik im Kinderparlament. Sie sprechen über ihre Kinderrechte – etwa über die Gleichberechtigung zwischen Jungen und Mädchen oder darüber, warum Schule und Freizeit so wichtig für Kinder sind. Salmas Freundin Sonam ist seit kurzem die neue Präsidentin des Kinderparlaments. Der größte Wunsch der Achtjährigen ist es, dass alle Kinder in die Schule gehen können und nicht mehr arbeiten müssen. Während sie bei den ersten Treffen noch Unterstützung bekommen, sollen die Mädchen und Jungen bald schon eigenständig diskutieren und ihre eigenen Entscheidungen treffen – ganz ohne Erwachsene. Regelmäßig besuchen die Kinder auch Familien, etwa wenn gegen die Rechte der Kinder verstoßen wird und zum Beispiel ein Mädchen minderjährig verheiratet werden soll.
Für die Frauen im Dorf hat die Vikas-Stiftung zwei Selbsthilfegruppen gegründet, die von 30 Müttern besucht werden. Salmas Mutter Mariam leitet eine der beiden Gruppen. Monatlich zahlt jedes Mitglied 100 Rupien, etwa 1,40 Euro, auf ein Gemeinschaftskonto ein. Gemeinsam entscheiden sie, welche der Frauen von dem Konto unterstützt werden soll, etwa um sich eine Ziege zu kaufen. Ein Liter Ziegenmilch lässt sich auf dem Markt für 30 bis 40 Rupien verkaufen. So kann der Kredit schnell zurückgezahlt werden. Auch Mariam hat schon einen Kredit über 2000 Rupien erhalten. „Seit die Vikas-Stiftung ins Dorf gekommen ist, hat sich viel geändert“, erzählt sie glücklich. „Ich wünsche mir, dass Salma später eine staatliche Schule besuchen kann und eine gute Bildung bekommt.“
Susanne Dietmann