Die Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger findet deutliche Worte bei der Gedenkfeier in Gelsenkirchens Neuer Synagoge.
Lässt sich aus der Geschichte lernen? Für Judith Neuwald-Tasbach steht dies außer Frage. Und dennoch treibt die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen sichtlich große Sorge um, wenn sie auf eine aktuelle Umfrage verweist, wonach 37 Prozent der Befragten einen „Schlussstrich“ unter die NS-Vergangenheit ziehen wollen.
Wer die Geschichte vergessen wolle, verliere „die Möglichkeit, aus der Katastrophe der Vergangenheit Rückschlüsse für ein gelingendes Leben ohne Hass, Rassismus und Antisemitismus sowohl hier und jetzt als auch für die Zukunft zu ziehen“, betonte Neuwald-Tasbach am Montagabend in der bis auf den letzten Platz gefüllten Neuen Synagoge in Gelsenkirchen aus Anlass der Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus. Neuwald-Tasbach zeigte sich „sehr überwältigt“ von dieser bezeugten Anteilnahme der Gelsenkirchener Stadtgesellschaft., von der dahinter stehenden Solidarität.
Bundesweit ist der 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, weltweit wird an ihm der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau gedacht, die sich in diesem Jahr zum 75. Mal jährte. Zugleich war der 27. Januar 1942 derjenige Tag, an dem 350 Juden aus der Ruhrgebietsstadt ins Ghetto nach Riga deportiert wurden – der erste von drei großen „Abtransporten“ aus der Stadt. Für Neuwald-Tasbach ist dies ein Teil ihrer Familiengeschichte.
Ihr Vater Kurt Neuwald, der überlebte, saß, anders als viele jüdische Rückkehrer nach 1945, nie „auf gepackten Koffern“. Er war fest entschlossen, in seiner Heimat zu bleiben. 43 Jahre lang war er Mitglied des Direktoriums im Zentralrat der Juden in Deutschland, den er 1946 mitgründete, 29 Jahre war er Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe. „Hitler soll nicht im nachhinein noch Recht bekommen, indem Deutschland ‚judenfrei‘ wird.“ Dieser Satz ihres Vaters Kurt Neuwald hat auch das Leben Neuwald-Tasbachs geprägt.
Erinnerung als Ewigkeitsaufgabe
Die 60-jährige Gelsenkirchenerin ist überzeugt: „Von Auschwitz gibt es keine Befreiung, nicht für die Opfer, nicht für die Täter und schon gar für die Nachgeborenen.“ Opfer wie Täter seien „dazu verdammt, bis an ihr Lebensende mit ihren Erinnerungen zu leben“. Die heute lebenden Menschen seien dazu „verpflichtet, die Erinnerung zu bewahren“. Die sei „eine Ewigkeitsaufgabe“, sagte sie, die den Antisemitismus als „nur eine Form des Virus aus der Familie Hass“ bezeichnete.
Die Konfrontation mit der Geschichte sei die einzige Möglichkeit, zeigen zu können, „wohin es führt, wenn man den Virus nicht bekämpft“. Und wenn sie von ihrer Hoffnung sprach, dass eines Tages jüdisches Leben in Deutschland „wieder normal“ sein könne, so betonte sie zugleich die Notwendigkeit, sich dem Gedenken zu widmen und darauf aufmerksam zu machen, wie „sehr die alten Geister des Antisemitismus wieder in unserer Gesellschaft angekommen sind“. Sie berichtete von einer wachsenden Furcht auch in der Gelsenkirchener jüdischen Gemeinde vor Angriffen – und dies nicht erst seit dem Angriff auf die Synagoge in Halle im vorigen Herbst.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, NRW-Antisemitismus-Beauftragte, betonte als Hauptrednerin des Abends: Gedenken sei „kein Ritual, sondern Übernahme von politischer und gesellschaftlicher Verantwortung“. Es sei ein großes Missverständnis, wenn Menschen heute meinten, dieses Gedenken sei ein in die Vergangenheit gerichtetes Zelebrieren eines Opferstatus. „Wir erinnern uns, weil dadurch eine Gegenwart, etwas Bleibendes hergestellt wird.“
Antisemitismus gebe es in der Bundesrepublik zwar seit langem und es gebe ihn auch in allen Bildungsschichten – „auch bei denen, die alles wissen“. Aber gerade auch das derzeitige Ausmaß sei zusätzlich erschreckend. Parallelen zur Shoah könne man heute nicht ziehen, „aber der Judenhass und die Judenfeindschaft sind seit einigen Jahren in einer Art und Weise gegenwärtig, dass wirklich niemand mehr verharmlosen kann“, betonte sie. „Antisemitismus“, so verdeutlichte Leutheusser-Schnarrenberger, „ist ein Angriff auf unser Wertesystem.“
Erhebungen zeigten, welche große Rolle antisemitische Stereotypen spielten, wie viele diese anführten, ohne selbst Juden zu kennen. Ein Drittel der Deutschen glaube, der Holocaust lenke von heutigen Ungerechtigkeiten ab. Der Kampf gegen Antisemitismus müsse „fester Bestandteil in allen Bildungsbereichen werden, unsere Wertegrundlagen stärker vermittelt werden“, erklärte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Denis Andric, Leiter des Staatsschutzes der Polizei Gelsenkirchen berichtete, dass antisemitische Delikte zumeist von Rechten begangen werden, es aber auch unter Linksextremen und Islamisten antisemitische Tendenzen gebe, die im Blick zu behalten seien. In vielen Fällen bewegten sich Angriffe jedoch – bewusst – unterhalb der Schwelle zur Strafverfolgung. Landesweit seien 2018 insgesamt 350 Straftaten registriert worden. Wie auch alle weiteren Redner an diesem Abend, plädierte er für mehr Aufklärung, beginnend bei den Jüngsten, um Vorurteilen entgegenzuwirken. Um aus der Geschichte zu lernen.
Boris Spernol