Über zwei Stunden beriet der Bundestag am 21. April 2021 über die Konsequenzen der Verfassungsgerichtsentscheidung zur Suizidbeihilfe. Viele Abgeordnete treibt die Sorge vor eine Normalisierung des Suizid um.
Berlin – Über zwei Stunden beriet der Bundestag über die Konsequenzen der Verfassungsgerichtsentscheidung zur Suizidbeihilfe. Viele Abgeordnete treibt die Sorge vor eine Normalisierung des Suizid um. Nachdem das Bundesverfassungsgericht vor gut einem Jahr das Verbot der Suizidbeihilfe aufgehoben hatte, herrschte beim vielen Parlamentariern langes Schweigen. Und das, obgleich die Richter das Parlament ausdrücklich ermutigt hatten, nun Schutzkonzepte Menschen mit Suizidwunsch vorzulegen. „Ich musste erstmal schwer schlucken“, erinnerte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Mittwoch im Bundestag. Über zwei Stunden berieten knapp 40 Redner in einer Orientierungsdebatte über Konsequenzen und mögliche Lösungen. Viele räumten ein, dass sie angesichts des Richterspruchs vor einem Dilemma stünden.
Gröne: Wenn Selbsttötung zur Option wird, steigt Druck auf Kranke
Michael Brand (CDU) erinnerte daran, dass sich der Gesetzgeber 2015 mit dem Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe um einen solchen Schutz bemüht habe. Karlsruhe habe dies dann aber mit Verweis auf ein Persönlichkeitsrecht auf einem selbstbestimmten Tod aufgehoben. Mehr noch: Wurde Suizidbeihilfe zuvor vor allem mit Blick auf sterbenskranke Menschen diskutiert, soll das Recht auf Beihilfe nach dem Verdikt aus Karlsruhe nun für alle „in jeder Phase der menschlichen Existenz“ gelten, vom lebenssatten Senior bis zum vom Liebeskummer geplagten Jugendlichen. Damit stehe der Gesetzgeber vor einer „Quadratur des Kreises“, so Brand.
Für Hermann Gröhe (CDU) ergibt sich daraus ein weiteres Dilemma: Jede Regelung, die Verletzliche schützen soll, droht zugleich zu einer Normalisierung des Suizids zu führen. Die Sorge der Abgeordneten: Wenn die Selbsttötung zur normalen Option wird, steigt der Druck auf Kranke, Alte oder Einsame, den Suizid zu wählen, um anderen nicht zur Last zu fallen.
Strasser: Selbstbestimmung nicht mit Selbstgenügsamkeit verwechseln
Eine solche Normalisierung bricht nach den Worten von Stephan Pilsinger (CSU) auch den Grundkonsens auf, wonach der Mensch immer „mit und für andere und damit in einer Gemeinschaft lebt, die auf das Leben ausgerichtet ist“. Benjamin Strasser (FDP) mahnte entsprechend, Selbstbestimmung nicht mit Selbstgenügsamkeit zu verwechseln: „Wir sind eingebunden in eine Gemeinschaft“. Pascal Kober (FDP) berichtete von den traumatischen Folgen eines Suizids für die Angehörigen.
Der Wunsch nach Suizid entstehe zumeist aus einer als unerträglich empfundenen Lebenssituation, führten etwa Kirsten Kappert-Gonther (Grünen) oder Kerstin Griese (SPD) aus. Viele Redner bekräftigten deshalb die Forderung, dass jede Regelung eine Stärkung der Suizidprävention, der Palliativ- und Hospizversorgung oder auch der Suchtberatung umfassen müsse.
Zugang zu Medikamenten regeln
Es gab aber auch andere Stimmen, für die der Staat die Pflicht hat, sich auf die Seite derer zu stellen, „die selbstbestimmt sterben wollen“, wie Katrin Helling-Plahr (FDP) sagte. Für Petra Sitte (Linke) kann die Möglichkeit der Suizidhilfe nicht zuletzt Ängste und Ohnmachtsgefühle abbauen. Beide plädierten für eine Regelung, die eine ergebnisoffene Beratung, straffreie Beihilfe, flächendeckende Angebote und einen geregelten Zugang tödlichen Medikamenten vorsieht. Auch Renate Künast und Katja Keul von den Grünen wollen mit einem Gesetz den Zugang zu lebensbeendenden Medikamenten regeln.
Stärker vom Schutz- und Präventionsgedanken geht ein Eckpunktepapier mehrere Abgeordneter aus, die die Selbstbestimmung durch umfassende Beratung und Begutachtung absichern möchten und mit Angeboten der Suizidprävention verbinden. Ein „Arbeitsentwurf“ aus dem Haus Spahn setzt ebenfalls auf ein Schutzkonzept, das die Hilfe zur Selbsttötung grundsätzlich wieder unter Strafe stellt, aber Ausnahmen vorsieht. Spahn betonte zugleich, dass der Staat nicht verpflichtet sei, von sich aus tödliche Medikamente zur Verfügung zu stellen. Und Gröhe betonte, dass weder Einzelne noch Einrichtungen je gezwungen werden dürften, an einer Beihilfe zum Suizid teilzunehmen oder sie anzubieten.
Kirchen fordern therapeutische Begleitung
Ein Anliegen, das besonders die Kirchen bewegt. Suizidwillige bräuchten „keine Unterstützung bei der Umsetzung dieses Suizidwunsches, sondern eine therapeutische Begleitung, mit der gemeinsam nach Wegen der Bewältigung einer Lebenskrise oder der Anpassung an eine schwierige Lebenssituation gesucht wird“, unterstrich aus Anlass der Debatte der Vertreter der Bischöfe in Berlin, Karl Jüsten.