Ende Juli war der Finanzprozess im Vatikan gestartet. Nun soll sich entscheiden, ob er mit dem bisher präsentierten Beweismaterial überhaupt fortgesetzt werden kann. Zudem könnte die Anklageschrift geändert werden.
Vatikanstadt – Erst nach mehrmaliger Aufforderung war der vatikanische Strafverfolger Alessandro Diddi bereit, das Audio- und Videomaterial zur Verfügung zu stellen, auf das er seine fast 480 Seiten starke Anklageschrift bisher größtenteils gründet. Nach heftigen Protesten der Strafverteidiger der zehn Angeklagten sowie einem erneuten Ultimatum durch den Vorsitzenden Richter Giuseppe Pignatone rückte Diddi mit den Aufnahmen heraus. Allerdings tat er es nur unvollständig, wie die römische Zeitung „Il Messaggero“ Anfang November berichtete.
Da Diddi zudem bisher eingereichtes Material zurückfordern durfte und die Anklagepunkte wohl modifizieren wird, darf man gespannt sein, welche Wendung der Mammutprozess zum Finanzskandal im vatikanischen Staatssekretariat am Mittwoch nehmen wird. Dabei geht es vor allem um verlustreiche Investitionen in eine Londoner Luxus-Immobilie. Diese soll britischen Medienberichten zufolge nun vor dem Weiterverkauf stehen – mit einem Verlust von gut 100 Millionen Euro.
An den verlustreichen Investitionen sollen insgesamt zehn Angeklagte beteiligt gewesen sein. Auch Spendengelder dürften davon betroffen sein. Mit dem früheren Kurienkardinal Giovanni Angelo Becciu sitzt zudem – infolge einer Rechtsanpassung durch Papst Franziskus – erstmals ein Kardinal auf der Anklagebank.
Weitere Angeklagte sind unter anderen Beccius Sekretär Mauro Carlino, der Schweizer Finanzexperte und Ex-Präsident der vatikanischen Finanzaufsicht, Rene Brülhart, die Finanzmanager Gianluigi Torzi und Raffaele Mincione sowie die Sicherheitsberaterin Cecilia Marogna. Die Vorwürfe reichen von Amtsmissbrauch, Veruntreuung und Geldwäsche bis hin zu Betrug und Erpressung.
Der Hauptzeuge Perlasca war viele Jahre Verwaltungsleiter der ersten Abteilung im Staatssekretariat. Er schloss im Auftrag Beccius und seines Nachfolgers Erzbischof Edgar Pena Parra erste Verträge mit den angeklagten Finanzmanagern Mincione und Torzi. Mittlerweile lebt er wieder in seinem Heimatbistum Como.
Ausgerechnet die nun doch zur Verfügung gestellten Aufnahmen von Perlascas Vernehmung sollen unvollständig sein, berichtete der „Messaggero“. Auch bei Angeklagten, etwa den Finanzmanagern Gianluigi Torzi und Raffaele Mincione, fehlten Aufnahmen; teilweise gebe es keine Abschriften.
Seinen zurückhaltenden Umgang mit dem Beweismaterial hatte Diddi mit Persönlichkeitsrechten der Beteiligten begründet. Er wolle das Material nicht in Zeitungen und Social Media wiederfinden. Richter Pignatone lies Diddis Bedenken kaum gelten; allerdings erhielten die Strafverteidiger Einsicht in die Aufnahmen nur in den Räumen der vatikanischen Gendarmerie.
Ob ihnen das bisher Gezeigte genügt, wird sich am vierten Verhandlungstag am Mittwoch zeigen. Die Frage, ob aus dem als Paradebeispiel der Vatikan-Justiz gedachten Prozess überhaupt etwas wird, bleibt bestehen. Schwingt doch zusätzlich der Vorwurf mit, der Staat der Vatikanstadt mit dem Papst als absoluten Monarchen an der Spitze genüge in keiner Weise rechtsstaatlichen Prinzipien. Welcher europäische Staat – ob Italien oder Schweiz – wollte dann einen seiner Bürger dorthin ausliefern?
Entsprechend tauchten an den bisherigen Verhandlungstagen auch nur Kardinal Becciu und sein früherer Sekretär Carlino auf. Becciu nutzte die Anwesenheit in dem zum Gerichtssaal umgebauten Mehrzweckraum der Vatikanischen Museen denn bisher auch stets, um seine Version der Dinge zu schildern. Zudem kontern er und sein Anwalt jede mediale Äußerung gegen ihn sofort.
Die Behauptung von Kardinal George Pell in einem TV-Interview, man hätte heftige Verluste des Staatssekretariats sehr viel früher beenden können, ließ Becciu umgehend zurückweisen. Als Substitut im Staatssekretariat hatte er sich mit Pell, der von 2014 bis 2017 das neu errichtete Wirtschaftssekretariat leitete, heftige Auseinandersetzungen geliefert.
Im Gerichtsprozess wurde derweil klar, dass Richter und Strafverfolgung definitiv nicht unter einer Decke stecken, aber eben auch nicht an einem Strang ziehen. Ob dies an ihrer persönlichen Historie liegt, bleibt offen. So war Pignatone einst Staatsanwalt in großen Mafia-Prozessen, während Alessandro Diddi als Anwalt einen bekannten Mafioso vertritt.
Die spannendste Frage bleibt vorerst: Welche Rolle spielte Perlasca bei den fünf Befragungen: War er Beschuldigter oder von Anfang an nur Zeuge? Wenn es da einen Wechsel gab, dürften die Befragungen sehr unterschiedlich abgelaufen sein. Die Verteidiger spekulieren darauf, dass eine Befragung, die wohl ohne Anwälte durchgeführt wurde, nicht rechtens war und entsprechend gar nicht als Beweismaterial genutzt werden darf.