Das oberste Gericht der USA hat Argumente zu dem umstrittenen Abtreibungsgesetz von Mississippi angehört. Die neun Richter ließen in ihren Fragen erkennen, welcher Seite sie mehrheitlich zuneigten.
Washington – Diesem Tag haben Abtreibungsgegner und Frauenrechtlerinnen entgegengefiebert. Während sich Demonstranten aus beiden Lagern an dem frostigen Dezembermorgen vor dem Supreme Court in Washington hitzige Wortgefechte lieferten, ging es drinnen im Fall „Dobbs v Jackson Women’s Health Organization“ sachlicher, aber nicht weniger leidenschaftlich zu. Die neun Richterinnen und Richter hörten Argumente zum umstrittenen Abtreibungsgesetz des Bundesstaates Mississippi.
Dessen Justiziar Scott Stewart verteidigte das per einstweiliger Verfügung gestoppte Gesetz, das alle Abtreibungen ab der 15. Woche der Schwangerschaft verbietet. Eine direkte Anfechtung des Grundsatzurteils „Roe v. Wade“ von 1973, wie der Bundesstaat in seinen Schriftsätzen zugab. Darin forderte Mississippi den Supreme Court auf, fast ein halbes Jahrhundert an Rechtssprechung zur Abtreibung über den Haufen zu werfen.
Konservative Mehrheit stellte Fragen
In „Roe v Wade“ hatte das oberste Gericht Schwangerschaftsabbrüche während des ersten Drittels zur Privatangelegenheit erklärt. Erst bei der Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibs dürfen Bundesstaaten den Zugang einschränken. Also ab der 24. Schwangerschaftswoche. In „Southeastern Pennsylvania v Casey“ hatte das oberste Gericht 1992 diese Rechtssprechung im Grundsatz bestätigt.
Am Mittwoch stellte die konservative Mehrheit der neun Richterinnen und Richter Fragen, die Sympathien für die Argumente des Südstaates zu erkennen gaben. Sie erkundigten sich, welche Verfassungsrechte ein „Recht auf Abtreibung“ begründeten, ob die Lebensfähigkeit des Fötus eine „künstliche“ Grenze sei oder der Supreme Court sich damals „fürchterlich vertan hat“, als er „Roe v Wade“ entschied.
Am direktesten gab der von Donald Trump nominierte Richter Brett Kavanaugh zu erkennen, in welche Richtung er denkt. Er verstehe nicht, warum das oberste Gericht sich auf „eine Seite in der hitzigsten Debatte des amerikanischen Lebens“ stellen sollte, entwickelte der Katholik das Argument, wonach die US-Verfassung keine Aussage zur Abtreibung mache.
Richterin: Schwangerschaft und Elternschaft nicht dasselbe
Julie Rikelman vom „Center for Reproductive Rights“, das die letzte Abtreibungsklinik in Mississippi bei der Anhörung vertrat, sagte, es gehe um die in der Verfassung verankerte „Freiheit“ der körperlichen Unversehrtheit und Selbstbestimmung, die Frauen verwehrt würde, wenn der Staat sie zum Austragen des Kindes zwänge.
Die ebenfalls von Trump ernannte Verfassungsrichterin Amy Coney Barrett wies das Argument unter Verweis auf Eingriffe etwa durch Impfpflichten während einer Pandemie zurück. Eine Abtreibung sei vermeidbar, indem Frauen mit einer Freigabe des Kindes zur Adoption „ihre Elternrechte beenden könnten“. Schwangerschaft und Elternschaft seien nicht dasselbe. Der Vorsitzende Richter John Roberts signalisierte ebenfalls ein Interesse, Mississippi entgegenzukommen. „Warum sind 15 Wochen nicht genügend Zeit?“, wollte Roberts bei der Anhörung wissen.
Die drei liberalen Richterinnen und Richter warnten vor einer Politisierung des Supreme Court mit unabsehbaren Folgen für dessen Ansehen. Mit Blick auf die Absicht Mississippis, das Grundsatzurteil aufgrund der unter Trump geschaffenen konservativen Mehrheit des Supreme Court anzufechten, appellierte der dienstälteste Richter Stephen Breyer an seine Kollegen, „nicht die Legitimität des Gerichts zu untergraben“.
„Wenn die Leute den Eindruck gewinnen, alles sei politisch, wie will dieses Gericht das überleben?“
Die von Barack Obama nominierte Sonia Sotomayor ließ keinen Zweifel daran, welchen Ausgang sie erwartet. „Wird diese Institution den Gestank los, den sie schafft?“, geißelte sie die aus ihrer Sicht große Parteilichkeit des Supreme Court. „Wenn die Leute den Eindruck gewinnen, alles sei politisch, wie will dieses Gericht das überleben?“
Mit einer Entscheidung rechnen Experten nicht vor Juni 2022. Falls das Gesetz von Mississippi Bestand hat, würde dies Konsequenzen für das gesamte Abtreibungsrecht in den USA haben. Statt nationaler Standards ginge die Zuständigkeit an die Bundesstaaten zurück. 26 Gliedstaaten haben bereits Abtreibungsverbote beschlossen, die dann in Kraft treten könnten. Betroffen davon wären etwa sechs von zehn Amerikanerinnen im gebärfähigen Alter.