Brisantes Gutachten über Missbrauch in katholischer Kirche

In München wird um 11 Uhr ein mit Spannung erwartetes Gutachten zu Missbrauch vorgestellt. Im Blickpunkt stehen mehrere prominente Kirchenmänner.
München – In München wird um 11 Uhr ein mit Spannung erwartetes Gutachten zu Missbrauch vorgestellt. Im Blickpunkt stehen mehrere prominente Kirchenmänner - allen voran der frühere Papst Benedikt XVI. und der aktuelle Münchner Kardinal Reinhard Marx. Es geht darum, ob sie Fehler gemacht haben im Umgang mit Fällen von Missbrauch durch Priester.

Kardinal Reinhard Marx –Foto: Erzbischöfliches Ordinariat München (EOM) / Lennart Preiss

In München wird um 11 Uhr ein mit Spannung erwartetes Gutachten zu Missbrauch vorgestellt. Im Blickpunkt stehen mehrere prominente Kirchenmänner – allen voran der frühere Papst Benedikt XVI. und der aktuelle Münchner Kardinal Reinhard Marx. Es geht darum, ob sie Fehler gemacht haben im Umgang mit Fällen von Missbrauch durch Priester.

BR-Fernsehen bringt Sondersendung zum WSW-Missbrauchsgutachten

Anlässlich der Vorstellung des mit Spannung erwarteten Gutachtens zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising plant das BR-Fernsehen eine Sondersendung. Unter dem Titel „Was wussten die Kardinäle? Dass Missbrauchs-Gutachten und die Folgen“ strahlt der Sender am 20. Januar um 19 Uhr ein „BR24 extra“ aus. Die Moderation hat der BR-Chefredakteur Christian Nitsche. Analysiert werden sollen die wesentlichen Aussagen des am selben Tag präsentierten Gutachtens der Kanzlei Westpfal Spilker Wastl (WSW).

Nitsche erörtere mit seinen Gästen die Ergebnisse und frage, was die neuen Erkenntnisse für die Opfer bedeuteten: Fühlen sie sich in ihrem Leid anerkannt und welche Forderungen haben sie? Eingeladen wurden zu der TV-Runde der Jesuitenpater Hans Zollner, Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen, Matthias Katsch, Sprecher der Opfervereinigung „Eckiger Tisch“ und Tilmann Kleinjung, Leiter der BR-Redaktion „Religion und Orientierung“.

Brisant an dem Dokument ist, dass im Untersuchungszeitraum 1945 bis 2019 prominente Kirchenmänner an der Spitze des Erzbistums standen, allen voran der inzwischen emeritierte Papst Benedikt XVI., damals noch als Joseph Ratzinger, außerdem die Kardinäle Friedrich Wetter und Reinhard Marx, zudem Michael Faulhaber, Joseph Wendel sowie Julius Döpfner.

Um wen geht es im Münchner Missbrauchsgutachten? 

Ursprünglich sollte das Gutachten bereits 2021 veröffentlicht werden. Die Verschiebung begründeten die Anwälte im November mit neuen Erkenntnissen. Die Kanzlei hatte zudem stets betont, die Ergebnisse eigenverantwortlich zu präsentieren. Auch die Repräsentanten der Erzdiözese München und Freising würden die Ergebnisse erst im Zuge der Präsentation erfahren. Die Veranstaltung wird ab 11 Uhr aus dem Haus der Bayerischen Wirtschaft in München via Livestream übertragen.

Das Erzbistum München und Freising hatte eine Anwaltskanzlei beauftragt, Fälle aus der Zeit zwischen 1945 und 2019 zu untersuchen. Die Veröffentlichung wird von Protesten begleitet. Unter anderem wollen Betroffene von Missbrauch dafür demonstrieren, dass unabhängige Institutionen oder die Politik die Aufarbeitung der Fälle an sich ziehen. Kardinal Marx wird das weit über 1.000 Seiten starke Gutachten nicht persönlich entgegennehmen. Er hat jedoch ein Statement für den späten Nachmittag angekündigt. Im vergangenen Jahr hatte Marx Papst Franziskus seinen Rücktritt als Erzbischof angeboten. Dieser beließ ihn jedoch im Amt.

Auftrag der Kanzlei ist es nach eigenen Angaben, sämtliche Fälle sexuellen Missbrauchs „im Hinblick auf Ordnungsmäßigkeit und Angemessenheit der Sachbehandlung“ zu prüfen und auch mögliche systemische Defizite zu benennen. Außerdem wolle man „gegebenenfalls und soweit rechtlich möglich“ diejenigen Repräsentanten des Erzbistums benennen, die nach Einschätzung der Juristen im Untersuchungszeitraum „möglicherweise fehlerhaft oder unangemessen im Zusammenhang mit der Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs gehandelt haben“. In der Untersuchung zum Umgang mit Missbrauch geht es um teils sehr prominente kirchliche Verantwortungsträger. Die wichtigsten stellt die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) in Kurzporträts vor. Einige sind schon tot.

Papst Benedikt XVI.em./Joseph Ratzinger:

Das 2013 zurückgetretene Kirchenoberhaupt (94) war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Als Papst (2005-2013) geriet er 2010 wegen des Falls H. in die Schlagzeilen. Das Bistum Essen hatte 1980 gebeten, den übergriffig gewordenen Priester in München aufzunehmen, wo er eine Therapie machen sollte. Bald war er auch wieder seelsorglich tätig, ab 1982 als Kaplan in Grafing, wo er sich erneut an Kindern verging.

Benedikt XVI. ließ noch vergangene Woche ausrichten, er habe anders als von vielen Medien dargestellt zum Zeitpunkt der Aufnahme H.s in München von dessen Vorgeschichte nichts gewusst. Laut „Bild“-Zeitung hat er auf die Fragen der Anwälte eine 82 Seiten starke Stellungnahme abgegeben. „Er begrüßt die Aufarbeitung in München sowie die Veröffentlichung des Gutachtens“, die Schicksale der Missbrauchsopfer gingen ihm „sehr zu Herzen“, zitierte das Blatt Benedikts Privatsekretär Erzbischof Georg Gänswein.

Als Präfekt der Römischen Glaubenskongregation (1982-2005) verschärfte Ratzinger die kircheninterne Verfolgung von Priestern, die Missbrauch begingen. 2001 wurde auf seine Initiative hin die Glaubenskongregation zuständig dafür. 2019 wurde ein längerer Aufsatz aus seiner Feder mit persönlichen Reflexionen zum Missbrauchsskandal veröffentlicht. Darin geißelte er die aus seiner Sicht verheerenden Folgen der „sexuellen Revolution“ von 1968 und einen damit einhergehenden Verfall der katholischen Moraltheologie. Kurz erwähnte er auch, dass er als Glaubenspräfekt die Kirchenleitung nur gegen Widerstände zu mehr Einsatz gegen Missbrauch habe bewegen können und dass diese Bemühungen nicht ausgereicht hätten.

Kardinal Reinhard Marx:

Seit 2008 leitet der Westfale (68) das Erzbistum München und Freising. Als im Februar 2010 nach den Vorfällen am Canisius-Kolleg in Berlin auch im oberbayerischen Kloster Ettal Missbrauchsfälle bekannt wurden, griff Marx mit seinem Generalvikar Peter Beer ein und entsandte einen Sonderermittler. Im März kündigte er an, in Sachen Missbrauch nichts verschweigen und vertuschen zu wollen.

Im selben Monat machte der alte Fall des Priesters H. international Schlagzeilen. Es ging um die Frage, was Papst Benedikt XVI. 1980 davon gewusst habe. Das Erzbistum beauftragte die Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) mit einem Gutachten über Missbrauchsfälle von 1945 bis 2009, dieselbe wie jetzt wieder. Marx kommentierte das im Dezember 2010 mit den Worten: „Was wir tun, sind wir den Menschen schuldig, die zu Opfern wurden. Wir wollen aus den schlimmen Fehlern lernen.“ Zuvor war Marx am 20. November 2010 in Rom von Benedikt XVI. in den Kardinalsrang erhoben worden.

Der Erzbischof legte in München den Grundstein für das 2015 nach Rom verlegte internationale päpstliche Kinderschutzzentrum. Einen Großteil seines Privatvermögens brachte Marx im Dezember 2020 in eine Stiftung für Betroffene sexuellen Missbrauchs in der Kirche ein.

im Frühjahr 2021 verzichtete Marx auf das Bundesverdienstkreuz, nachdem ihm Betroffene schwere Versäumnisse im Umgang mit Missbrauchsfällen in seiner Amtszeit als Bischof von Trier (2002 bis 2008) vorhielten. Kurz darauf bot er Papst Franziskus seinen Rücktritt als Erzbischof an, den dieser aber nicht annahm. Im Juli traf sich der Kardinal mit Vertretern der Pfarrgemeinde in Garching an der Alz und entschuldigte sich für den Umgang der Kirche mit dem Missbrauchstäter H.. In einem Brief an die Gläubigen seines Erzbistums vor der Sommerpause schloss er ein erneutes Rücktrittsgesuch nicht aus.

Kardinal Friedrich Wetter

Der 93-Jährige war als Nachfolger von Joseph Ratzinger von 1982 bis 2008 Erzbischof von München und Freising. 1985 wurde er zum Kardinal ernannt. Von seinem Vorgänger erbte er den Missbrauchsfall des Priesters Peter H. Dieser wurde im Juni 1986 vom Amtsgericht Ebersberg zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Noch in der Bewährungszeit ließ Wetter eine erneute seelsorgliche Tätigkeit H.s zu, erst in einem Altenheim, dann von 1987 bis 2008 in Garching an der Alz, wo der Geistliche abermals Kinder missbrauchte, was aber erst später herauskam. Im März 2010, als ein neuer Vorwurf gegen den vorbestraften Priester öffentlich wurde und erneut Staatsanwälte ermittelten, räumte Wetter ein, es sei ein Fehler gewesen, H. wieder in der Pfarrseelsorge einzusetzen. Seine Opfer und ihre Angehörigen bat der Kardinal um Entschuldigung. Von 1968 bis 1982 war der gebürtige Pfälzer bereits Bischof von Speyer gewesen.

Lorenz Wolf:

Der Münchner Domdekan (66) zählt zu den einflussreichsten Kirchenmännern im Freistaat. Seit 2010 leitet der 1982 zum Priester geweihte Oberbayer das Katholische Büro in Bayern. Außerdem ist er seit 2014 Vorsitzender des Rundfunkrats des Bayerischen Rundfunks. Als Offizial ist der promovierte Kirchenrechtler seit 1997 für die kirchliche Gerichtsbarkeit im Erzbistum verantwortlich. Regelmäßig ist Wolf auch als zweite Instanz im Auftrag der römischen Kurie mit Missbrauchsfällen befasst.

Aus seiner Feder stammt ein im Mai 2016 unterzeichnetes Strafdekret gegen den Wiederholungstäter Peter H. Der Seelsorger hat im Bistum Essen sowie im Erzbistum München und Freising an mehreren Orten Kinder missbraucht und wurde kirchenrechtlich dafür erst sehr spät sanktioniert.

An dem bisher unveröffentlichten Dekret, über das Medien erstmals 2018 berichteten, entzündete sich Kritik, weil die Strafe angeblich zu milde ausgefallen war und H. nicht aus dem Klerikerstand entfernt wurde. Wolf rechtfertigte sich mit dem Hinweis, er habe wegen der Vorgaben aus Rom nicht selbst ermitteln dürfen. Deshalb und auch wegen des schlechten Zustands der Akten zum Fall sei nicht mehr drin gewesen.

Peter Beer:

Der in Theologie und Pädagogik promovierte Niederbayer (55) war von 2010 bis 2020 Generalvikar. In seiner Amtszeit wurden 2010 erstmals von einem deutschen Bistum externe Rechtsanwälte von WSW mit der Auswertung von Personalakten kirchlicher Mitarbeiter zu Missbrauchsfällen beauftragt. Das Ergebnis wurde summarisch im Dezember 2010 veröffentlicht. Der komplette Bericht blieb aber im Tresor – aus Datenschutzgründen, wie es hieß.

Der gebürtige Kelheimer wurde 2002 in Freising zum Priester geweiht. Er war Honorarprofessor für Religionspädagogik in Benediktbeuern. Von 2006 bis 2009 leitete Beer das Katholische Büro Bayern. Seit April 2020 ist er Professor an der Universität Gregoriana in Rom und ein enger Mitarbeiter des Kinderschutzexperten Hans Zollner, mit dem er zur Schule ging. Außerdem ist Beer Vorsitzender des Stiftungsrats der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU).

Gerhard Gruber:

Der 93-Jährige war fast 22 Jahre Generalvikar. Als rechte Hand diente der promovierte und 1953 in Rom zum Priester geweihte Theologe ab 1968 bis zu seiner Entpflichtung 1990 den drei Erzbischöfen Julius Döpfner, Joseph Ratzinger und Friedrich Wetter.

In die Schlagzeilen geriet Gruber 2010 nach Medienberichten über den Fall Peter H., die das Pontifikat von Papst Benedikt XVI. zu belasten drohten. H. war nach Übergriffen auf Kinder in seinem Heimatbistum Essen Anfang 1980 in Ratzingers Amtszeit als Erzbischof (1977-1982) nach München überstellt worden. Er sollte sich einer Therapie unterziehen, wurde bald wieder als Seelsorger tätig und missbrauchte wieder Kinder. Daran änderte auch eine gegen ihn vom Amtsgericht Ebersberg 1986 verhängte Bewährungsstrafe nichts.

Gruber übernahm öffentlich die Verantwortung für H.s erneuten Einsatz in der Seelsorge. Er habe die Entscheidung mit dem seinerzeitigen Personalreferenten Friedrich Fahr getroffen, ohne mit Ratzinger zu sprechen. Behauptungen, dass Gruber zu dieser Stellungnahme gedrängt worden sei, wurden vom Erzbistum immer wieder dementiert.

Heinrich Graf von Soden-Fraunhofen:

Der im Jahr 2000 verstorbene Geistliche war von 1972 bis 1994 Weihbischof und für die Seelsorgsregion Nord zuständig. Der Sohn einer alten bayerischen Adelsfamilie wurde 1951 mit Joseph Ratzinger in Freising zum Priester geweiht und zählte zu dessen Freunden.

Überregional bekannt wurde Soden-Fraunhofen seit den späten 1980er Jahren durch seinen Einsatz gegen Lehre und Praxis des umstrittenen „Engelwerks“. Die obskure Vereinigung ging auf Privatoffenbarungen einer Tirolerin zurück und sorgte damals für Unruhe in katholischen Kreisen.

1993 zog sich Soden-Fraunhofen aus gesundheitlichen Gründen zurück und war danach Landpfarrer im Pfarrverband Garching an der Alz. Dort lebte er in Engelsberg, wo der wegen Missbrauchs vorbestrafte Peter H. von 1987 bis 2008 als Seelsorger tätig war. Der Weihbischof sollte H. beaufsichtigen. Nach Angaben des Erzbistums fielen seine regelmäßigen Berichte nur positiv aus.

Journalisten von Correctiv und Bayerischem Rundfunk haben in den vergangenen Jahren recherchiert und kamen dabei zum Ergebnis, dass Soden-Fraunhofen in Garching aufkommende Gerüchte über H. vor Ort im Keim erstickt habe.

Kardinal Julius Döpfner:

Der Unterfranke (1913-1976) zählt zu den prägendsten katholischen Gestalten der Nachkriegszeit. Mit nur 34 Jahren wurde der promovierte Theologe aus der Rhön 1948 in Würzburg zum jüngsten Bischof der Weltkirche. 1957 wechselte er nach Berlin, ab 1961 war er Erzbischof in München und Freising. Seit 1965 leitete er die Deutsche Bischofskonferenz. Als einer von vier Moderatoren nahm er maßgeblichen Einfluss auf das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965). Zur Umsetzung der dort beschlossenen Reformen in West-Deutschland initiierte und leitete er die Würzburger Synode (1971-1975). 1976 starb er überraschend im Alter von nur 62 Jahren.

kna