Ein unbequemer Mahner geht: Rörig verabschiedet sich als Missbrauchsbeauftragter

Bei seinen Auftritten war er stets unmissverständlich: „Wir müssen Kinder besser vor Missbrauch schützen.“ Nun legt Johannes-Wilhelm Rörig sein Amt als Missbrauchsbeauftragter endgültig nieder.
Bei seinen Auftritten war er stets unmissverständlich: "Wir müssen Kinder besser vor Missbrauch schützen." Nun legt Johannes-Wilhelm Rörig sein Amt als Missbrauchsbeauftragter endgültig nieder.

Johannes-Wilhelm Rörig – Christine Fenzl / www.christinefenzl.com

In den vergangenen gut zehn Jahren war er die mahnende Stimme, wenn es um das Thema Missbrauch ging: Der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, wurde nicht müde, mehr Maßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt zu fordern. Zudem drängte er Institutionen – vor allem die stark im Fokus stehende katholische Kirche – dazu, solche Taten aufzuarbeiten.

Von Anfang an plädierte er dafür, Missbrauchsbetroffene als Experten einzubeziehen. An diesem Montag hat er seinen letzten Arbeitstag als Beauftragter. Bis zur Berufung einer Nachfolge wird nach Angaben des Büros die langjährige Leiterin des Arbeitsstabes des Unabhängigen Beauftragten, Manuela Stötzel, das Amt kommissarisch leiten.

In die Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP sowie in die ersten Monate der Ampel-Regierung hatte Rörig sich noch engagiert eingebracht. So ist es vor allem seinem Drängen zu verdanken, dass sein bisheriges Amt aufgewertet werden soll. Es soll nun gesetzlich verankert und mit einer Berichtspflicht hinterlegt werden.

Nach dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals vor zwölf Jahren erst in katholischen, dann aber auch in anderen Einrichtungen hatte die Bundesregierung zunächst die frühere Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) zur Beauftragten berufen. Der Jurist Rörig, lange Zeit Bergmanns Büroleiter, wurde 2011 ihr Nachfolger.

Wer damals dachte, dass Politik und Gesellschaft beim Thema Missbrauch schnell wieder zur Tagesordnung zurückkehren könnten, sah sich getäuscht: Mit Rörig, der aus Kassel stammt und seit Ende der 1980er-Jahre in Berlin lebt, kam ein unbequemer Mahner. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, keine Ruhe zu geben, bis sich tatsächlich etwas ändert und Heranwachsende besser vor Missbrauch geschützt werden.

Ihm sei damals nicht klar gewesen, wie schwierig die Aufgaben waren und welche Widerstände er überwinden musste, erzählte er unlängst. Aber er habe immer frei agieren können, so der 62-Jährige. Von Beginn an sei es ihm wichtig gewesen, Betroffene in seine Arbeit einzubeziehen. Ihn hätten die Biografien der Opfer von sexualisierter Gewalt immer wieder aufs Neue schockiert. „Wenn man sich einmal mit dem beschäftigt hat, was Kindern und Jugendlichen an schrecklicher Gewalt angetan wurde, dann trifft einen das tief und lässt einen nicht mehr los“, so Rörig.

Das spürten auch die Institutionen und Verbände, in denen Missbrauch passierte: Rörig beließ es nicht beim Mahnen, sondern sorgte dafür, dass sie sich bewegen mussten. Er handelte Vereinbarungen zur Prävention aus, pochte immer wieder auf unabhängige Aufarbeitung. Er sorgte dafür, dass ein Betroffenenrat eingerichtet wurde und Betroffene sich an eine unabhängige Aufarbeitungskommission wenden konnten.

Auch Gesetze wurden nicht zuletzt auf sein Drängen hin geändert: Der Bundestag setzte strafrechtliche Verjährungsfristen für Missbrauchstäter herauf und reformierte die Vorschriften so, dass die Strafrechtsbehörden bessere Möglichkeiten zur Nachverfolgung von Tätern haben. Für die Betroffenen wurden schnelle Hilfen eingerichtet; im vergangenen Jahr verabschiedete das Parlament das neue Opferentschädigungsgesetz, das es Betroffenen von Missbrauch zumindest etwas erleichtert, Unterstützung zu erhalten.

Auch mit Blick auf die Kirchen bewies Rörig, der in seiner Freizeit Langstreckenläufer ist, einen langen Atem: Bei der Überarbeitung der Leitlinien zum Schutz vor Missbrauch war seine Expertise gefragt. Damit nicht genug: Es gelang ihm vor zwei Jahren mit den katholischen Bischöfen eine Gemeinsame Erklärung zu vereinbaren, die die Bistümer zu einer unabhängigen Aufarbeitung verpflichtet. Mit der evangelischen Kirche hat er in den vergangenen Monaten ebenfalls über eine solche Erklärung verhandelt. Sie wurde in seiner Amtszeit nicht fertig.

Immer wieder bezog Rörig auch in aktuellen Debatten Stellung: So kritisierte er den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki für dessen Umgang mit einem Aufarbeitungsgutachten und pochte auf Transparenz und Betroffenenbeteiligung. Nach der Veröffentlichung des Gutachtens über den Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising im vergangenen Januar sagte er, ihn verstöre der Pragmatismus, mit dem „sexueller Missbrauch wegverwaltet worden ist“. Bei der Aufarbeitung gebe es eine „beschämende Halbherzigkeit“.

Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) will zügig über einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für Rörig entscheiden und dem Kabinett einen Vorschlag unterbreiten, wie es aus dem Ministerium heißt. Auf sie oder ihn wartet weiter viel Arbeit. Rörig, der im Familienministerium neue Aufgaben übernehmen soll, hatte in den vergangenen Jahren vor allem die Kirchen im Blick. In vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen wie dem Sport ist mit Blick auf die Aufarbeitung von Missbrauch bislang dagegen noch nicht viel geschehen. In seinem letzten Statement als Beauftragter warb Rörig deshalb erneut für einen „bundesweit wirkenden Pakt gegen sexuellen Kindesmissbrauch“.

Von Birgit Wilke (KNA)