Der Agrarwissenschaftler Matin Qaim rechnet vor dem Hintergrund der Versorgungskrise wegen des Kriegs in der Ukraine „im schlimmsten Fall“ mit weltweit bis zu 100 Millionen mehr Hungernden.
Berlin – Der Agrarwissenschaftler Matin Qaim rechnet vor dem Hintergrund der Versorgungskrise wegen des Kriegs in der Ukraine „im schlimmsten Fall“ mit weltweit bis zu 100 Millionen mehr Hungernden. Genaue Zahlen seien aber wegen zu vieler Faktoren, die eine Rolle spielten, nicht möglich, sagte der Direktor am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn in einem Interview der „Welt“ (Donnerstag). Eine sehr große Zahl an Hungernden könne verhindert werden, wenn der „Rest der Welt“ geeignete Maßnahmen ergreife. Die Zahl der Hungernden steige, weil alle Lebensmittel teurer würden, nicht nur Weizen.
Qaim: Wladimir Putin proftiert nicht von wachsendem Hunger in Afrika
Qaim sagte, er denke nicht, dass der russische Präsident Wladimir Putin von wachsendem Hunger in Afrika profitiere. „Letztlich geht es ihm beim russischen Exportstopp auch darum, die lokalen Brotpreise niedrig zu halten und damit Unruhe in der Bevölkerung zu vermeiden.“
Auf die Frage, ob man in Skandinavien, wo noch nicht gesät worden sei, mehr Weizen und Mais pflanzen könne, sagte der Experte unter anderem, man könne jetzt durchaus zusätzlichen Mais aussäen, der erst im April und Mai gesät werde. Auch andere Getreidearten könnten jetzt noch ausgebracht werden. „Die drohende Hungerkrise könnte abgemildert werden, wenn man diesen Mais nicht zu Biogas und Tierfutter verarbeiten würde.“
Getreide nicht mehr zu Bioenergie zu verarbeiten
Qaim sagte, es sei politisch auch kurzfristig leichter umsetzbar, Getreide nicht mehr zu Bioenergie zu verarbeiten. Das halte er für einen „wichtigen und richtigen Schritt“ in der Krise. Auch könne man darüber nachdenken, Flächen, die stillgelegt werden sollten, wieder zu bestellen. „Mittelfristig führt angesichts des Klimawandels, der Umweltzerstörung und der Knappheit kein Weg daran vorbei, den Konsum von Fleisch und tierischen Produkten zu reduzieren.“
Afrika sei abhängig vom Weltmarkt, was jedoch nicht naturgegeben sei, betonte der Agrarwissenschaftler. „Klima und Böden gäben es durchaus her, dass der Kontinent unabhängiger von Lebensmittelimporten würde.“ Es fehlten jedoch Infrastruktur und „Knowhow“ bei vielen sehr kleinen Betrieben. Resilienz und Resistenz gegen Dürre und Trockenheit könnte aus Sicht Qaims mit neuen Sorten gestärkt werden. Das liege auch im Interesse Europas, da sonst „absehbar“ mehr Flüchtlinge kämen.