Die russische Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa hat davor gewarnt, den Friedensnobelpreis als Zeichen der Verständigung zwischen Moskau und Kiew zu sehen.
München/Oslo – Die russische Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa hat davor gewarnt, den Friedensnobelpreis als Zeichen der Verständigung zwischen Moskau und Kiew zu sehen. „Was wir vermeiden sollten: Bei diesem Nobelpreis von irgendeiner Versöhnung zu reden“, sagte die Mitgründerin der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ im Interview der Süddeutschen Zeitung (Donnerstag).
Die größte zivilgesellschaftliche Organisation Russlands erhält die Auszeichnung am Samstag in Oslo gemeinsam mit dem belarussischen Anwalt Ales Bjaljazki und dem Zentrum für bürgerliche Freiheiten aus der Ukraine. Memorial, das sich seit 30 Jahren für eine Aufarbeitung der Verbrechen der Stalin- und Sowjetzeit einsetzt, wurde kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine vom Obersten Gericht Russlands verboten.
Insbesondere aus der Ukraine hatte es Vorbehalte gegen die Preisverleihung gegeben. „Oleksandra Matwijtschuk vom Zentrum für bürgerliche Freiheiten hat gesagt, dass sie unsere Arbeit akzeptiert und uns gratuliert – es hilft niemandem, wenn wir uns alle auseinanderdividieren lassen“, sagte Scherbakowa, deren Eltern aus der Ukraine stammen. „Denn wenn wir etwas unternehmen wollen gegen das Putinsche System, müssen wir alle Kräfte mobilisieren.“ Für Memorial sei die gemeinsame Preisvergabe moralisch die einzige Möglichkeit, die Auszeichnung anzunehmen.
„Ich kann es auch nicht mehr hören, wenn es etwa hier in Deutschland heißt, der Krieg sei grausam für beide Seiten“, so die Germanistin und Kulturwissenschaftlerin weiter. Für die Ukraine sei es ein Kampf ums Überleben, für Russland einer, zu dem sich die Führung entschieden habe. „Es kann daher nicht um Versöhnung gehen, sondern nur darum, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Wie das Gewinnen aussehen soll und wann die Zeit für Verhandlungen erreicht ist, das kann nur Kiew entscheiden.“
Als „notorische Idealistin“ halte sie Frieden nach einer entsprechenden Aufarbeitung für möglich. Russland dürfe sich nicht in „ein riesiges Nordkorea verwandeln“ oder gar zerfallen. Zugleich sehe sie bislang nicht das Potenzial, dass die Menschen zur Besinnung kommen. In dieser Situation gebe der Nobelpreis zumindest ein bisschen Hoffnung. „Er zeigt, dass unsere Arbeit wichtig und vielleicht nicht alles umsonst war in den vergangenen 30 Jahren. Die Hoffnung, dass unsere Arbeit irgendwann Früchte trägt – sie erst erlaubt uns, den Preis überhaupt anzunehmen“, sagte Scherbakowa.