Philosoph: So kann die „Wüste der Langeweile“ neu beflügeln

Wer Muße sucht, muss häufig die „Wüste der Langeweile“ durchschreiten – dazu rät der Philosoph und Buchautor Timo Reuter.

Wer Muße sucht, muss häufig die „Wüste der Langeweile“ durchschreiten – dazu rät der Philosoph und Buchautor Timo Reuter. Eindrucksvolle Beispiele aus der Geschichte zeigten diesen Zusammenhang, sagte Reuter in einem am Montag veröffentlichten Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). „Martin Luther musste sich ein Jahr auf der Wartburg verstecken, die Langeweile quälte ihn, also hat er die Bibel ins Deutsche übersetzt. Was wäre wohl passiert, wenn er ein Smartphone dabei gehabt hätte?“

Reuter, der vor kurzem das Buch „Warten – Eine verlernte Kunst“ veröffentlicht hat, sieht bei dem Thema auch eine politische Dimension. Die Frage, wer auf wen warten müsse, sei letztlich „eine Frage von Macht und Privilegien. Das war immer so, und es ist heute noch so: Die Chefin kann ihre Angestellten hinhalten, umgekehrt können die Angestellten das nicht. Ebenso haben wir in Liebesbeziehungen das Gefühl, dass derjenige, der den anderen warten lassen kann, gewissermaßen am längeren Hebel sitzt.“

Aufschlussreich sei zudem, „wem existenzielle Wartezeiten zugemutet werden. Das betrifft vielfach diejenigen, die ohnehin marginalisiert sind: Sie müssen vor den Tafeln, bei der Arbeitsagentur oder auf der Ausländerbehörde warten.“ Wohlhabende Menschen könnten dagegen bisweilen eine eigene Extraschlange nutzen. „Die Verteilung von Wartezeit – und damit von Lebenszeit – ist sehr ungleich“, kritisierte Reuter.

Den Eindruck, dass die Zeit schnell vergehe, hätten Menschen immer schon geschildert, fügte der Philosoph hinzu. „Das Gefühl, keine Zeit zu haben, ist dagegen noch relativ neu.“ Das sei insofern „ein wenig absurd“, als Menschen heute doppelt so lange lebten und deutlich weniger arbeiteten als die Menschen vor 150 oder 200 Jahren. „Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Messung von Zeit: Als es noch keine exakten Uhren gab, konnte man auch noch nicht zehn Minuten zu spät kommen oder zehn Minuten warten. Dieses kleinteilige Warten macht sich erst bemerkbar, seitdem die Zeit in die Uhr gepresst wurde – und seitdem sie mit Geld verrechnet wird, Stichwort: ‚Zeit ist Geld‘.“

Wie man mit Wartezeit auf Bus und Bahn sinnvoll umgehen kann

Alltägliche Wartezeiten bieten nach Worten des Philosophen und Buchautors Timo Reuter auch Chancen. „Viele Menschen sehnen sich nach Langsamkeit, betrachten Wartezeiten aber selten als geschenkte Zeit“, sagte Reuter in dem Interview. Dabei lohne es sich, mit Wartezeiten – etwa auf Bus und Bahn – anders umzugehen. „Ich kann mir für jeden Tag, den ich morgens an der Bushaltestelle warte, ein kleines Ziel stecken“, sagte Reuter: „Montags lasse ich das Smartphone in der Tasche, dienstags spreche ich eine fremde Person an, die auch wartet. Mittwochs achte ich auf meinen Atem. Am Donnerstag laufe ich, anstatt den Bus zu nehmen. Freitags beobachte ich einen Vogel oder die Pflanzen in der Umgebung.“

Ein solcher Selbstversuch habe mehr Potenzial, als man zunächst meine, betonte der Autor. So zeigten zahlreiche Beispiele, „dass man die Wüste der Langeweile durchschreiten muss, um in die Oase der Muße zu gelangen“. Auch bringe man sich selbst um das Gefühl von Vorfreude, wenn man jedem Bedürfnis sofort nachgebe und etwa alles Mögliche online bestelle, um direkt danach zu vergessen, was man eigentlich bestellt habe.

Dass das Warten so unbeliebt sei, lasse sich durchaus erklären: „Warten bedeutet Ohnmacht“, so Reuter. „Wir sind zum Beispiel vom Busfahrer abhängig oder von einem Stau. Das große Versprechen unserer Zeit ist aber die Selbstbestimmung – das widerspricht einander.“ Viele Menschen erlebten Warten zudem als Stillstand, obwohl sie viel erledigen und die Zeit nutzen wollten. „Daher glauben wir, für das Warten keine Zeit mehr zu haben – und deshalb stehen wir bisweilen mit hochrotem Kopf an der Bushaltestelle.“

kna