Teilhabe als Schlüsselfrage

Michael Schlagheck (Foto: Nicole Cronauge | Bistum Münster)

Herr Dr. Schlagheck, eine Formulierung, die ich von Ihnen häufiger gehört habe, lautet, es gehe darum, „die Dinge ins Wort zu bringen“. Dahinter steckt für mich die Frage nach Sagbarkeitsregeln: Wie haben sich die in Ihrer Wahrnehmung in der Katholischen Kirche geändert? Und welchen Einfluss hatte dies auf Ihre Arbeit?

Schlagheck: Da hat sich zweifellos in den vergangenen Jahren Vieles erheblich geändert. In der Katholischen Kirche gab es das, was eine Meinungsforscherin einmal als Schweigespirale bezeichnet hat – Themen, die nicht debattenfähig waren, wie zum Beispiel die Frauenfrage, die Frage des Zölibats, oder die Fragen von Partizipation und Demokratisierung. Für unsere Akademie galt dies allerdings in meiner Wahrnehmung in geringerer Weise als gesamtkirchlich.

Sie haben gesagt, in geringerer Weise …

Schlagheck: Es gab in der Zeit, in der ich hier Verantwortung trage, das sind immerhin 27 Jahre, kein einziges Votum eines Bischofs, ein bestimmtes Thema nicht zu setzen. Aber ich will mit dem, was ich gesagt habe, nicht ausschließen, dass diejenigen, die hier Verantwortung getragen und inhaltlich gearbeitet haben, eine solche Schweigespirale vielleicht ein Stück weit auch bereits internalisiert hatten. Das muss man selbstkritisch sagen.

Sie meinen gewissermaßen ein vorausseilendes Nichtsagen…

Schlagheck: Ich meine schon, dass die Wolfsburg über die gesamte Strecke ein Ort war, an dem offen diskutiert wurde, an dem Weite demonstriert wurde. Wir haben vor gut 25 Jahren mit einer Reihe begonnen, um mit der Psychoanalyse ins Gespräch zu kommen. Das war nach Drewermann ein Tabu. Und wir haben wie selbstverständlich Politiker und Politikerinnen, die kirchlich vielleicht nicht so diskursfähig waren, zu Diskussionen eingeladen. Die Weite war schon immer da, aber sie hat in letzten Jahren noch mehr zugewonnen.

Welche Themen lagen Ihnen besonders am Herzen?

Schlagheck: Da ist der Dialog mit der freudianischen Psychoanalyse, die ja nicht gerade als besonders kirchenfreundliche Disziplin im Gespräch war. Wir haben auf diese Weise sehr viel gelernt und erfahren über kirchliche Prozesse, über die Weise, wie wir führen und welches Bild wir vom Menschen haben. Das hat uns sehr geweitet. Ein zweites Feld, was mir besonders wichtig ist: Die Wolfsburg steht für einen Arbeitsansatz, dass ihr Themen, Herausforderung und Motivation von außen „zuwachsen“ – das Gespräch, die Auseinandersetzung mit den Partnerinnen und Partnern, die in der Region und darüber hinaus Verantwortung tragen. Es ging uns immer um die Anschlussfähigkeit und darum, Deutungsvielfalt zu erreichen. Und in der Summe der Jahre liegt mir auch unser Engagement rund um die Kulturhauptstadt sehr am Herzen. Ich war ja für die NRW-Kirchen der Beauftragte der Kulturhauptstadt. Da haben wir durch Hunderte von Projekten zeigen können, dass wir als Kirche ein großer kultureller Akteur sind – weit über kirchliche Binnenräume hinaus.

Die Entwicklung des Sagbaren lässt sich auch an den Essener Bischöfen ablesen.

Schlagheck: Ja, sicherlich kann man die Kirchentwicklung daran ablesen, wie man die gesellschaftliche Entwicklung überhaupt im Umgang mit Autoritäten daran ablesen kann. Ich empfinde es allerdings als problematisch, wenn ich nur aus einer heutigen Position heraus, mit dem heutigen Wissen und mit der heutigen Vorstellung von Partizipation bewerte. Messen lassen muss er sich jedoch sicher an all dem, was damals bereits möglich war und auch breit diskutiert wurde und was hätte entwickelt werden können.  Hengsbach hat die Kirche  anders verstanden als es der heutige Bischof tut, gerade innerkirchlich und  auch im Umgang mit gesellschaftlichen Partnern. Das hatte doch viel von Kanzel und nicht so sehr von Dialog, von einem wertschätzenden Blick auf diverse Lebenswirklichkeiten. Aber dieses Agieren mit Partnern in der Region, das zeichnet das Bistum Essen im Vergleich zu vielen anderen Bistümern schon von Anfang an aus. Jeder Bischof hat dem seine eigene Prägung gegeben.

Hat sich die Kirche mehr der Gesellschaft zugewandt?

Schlagheck: Die Kirche ist immer auch ein Teil dieser Gesellschaft und kein exterritorialer Ort. Die Kirche muss mit ihrer Botschaft anschlussfähig und zugleich widerständig sein. Ich muss im Diskurs in „allen Sprachen“ anschlussfähig sein und zugleich klarhaben, dass auch in der Botschaft eine Widerständigkeit steckt gegenüber manchen Entwicklungen. Eine meiner ersten Veranstaltungen hier im Haus war mit dem Schriftsteller Peter Härtling. Und in diesem Kontext fiel damals der Satz, das Problem der Kirche sei, dass sie so wenig neugierig auf den Menschen sei. Dieser Satz hat mich eigentlich zu keinem Zeitpunkt losgelassen. Er ist mir ganz wichtig geworden, weil ich glaube, dass – und da bin ich bei der Zugewandtheit, so wie Sie sie meinen – Kirche als Teil von Gesellschaft auch  widerständig sein muss. Kirche muss eine extrem hohe Neugier haben – auf den Menschen, auf das, was ihn umtreibt, was er für Fragen und Deutungen hat. Insofern geht es um eine Weltzugewandtheit, die einfach Lebenswirklichkeit sehr ernst nimmt. Und das können Sie heute an bestimmten Debatten sehen, zum Beispiel als wir vor ein paar Jahren den Dialog mit dem Bischof anfingen. Ich muss mich dieser Lebenswirklichkeit stellen.

Im Moment erleben  wir eine starke Dynamik kirchlicher Struktur- und Reformdebatten. Vieles wird in überraschender Offenheit diskutiert, wenngleich von Amtsträgern oft noch verklausuliert oder in Frageform und nicht in entschiedene Aussagesätze gekleidet.

Schlagheck: Wir haben bei vielen Themen eigentlich kein Erkenntnisdefizit, sondern es gibt höchstens ein Defizit in der Entscheidung, jetzt einen neuen Weg zu gehen. Auch wenn es heißt, man müsse möglichst viele mitnehmen, kann das kein Argument sein, Entscheidungen nun nicht zu treffen, die an der Zeit sind: in der Frage von Macht und Partizipation, in der Frage von Frau und Amt. Und nichts anderes spüren die Bischöfe auch und viele andere Verantwortungsträger in der Kirche.
Ein Gedanke, der mir immer unglaublich wichtig war, ist, was der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer über die Verantwortung gesagt hat: „Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das sachlich – im Blick auf die Wirklichkeit – Notwendige zu tun und dieses wirklich zu tun, kann die Aufgabe sein.“ Das haben wir hier im Haus immer versucht. Das gilt ja auch für den Prozess, den die Bischöfe jetzt gehen.  Ich bin sehr sicher, dass einige Bischöfe das ihnen Mögliche im Blick auf die Notwendigkeit tun werden und nicht immer auf alle anderen warten.

Wie viel Demokratisierung von Kirche ist hierbei möglich?

Schlagheck: Ich halte das für eine Schlüsselfrage: Wie findet hier Teilhabe statt in diesem – ich gebrauche bewusst diesen Begriff  – Volk Gottes? Ich bin davon fest überzeugt, dass viel mehr möglich ist, als wir es zum Teil auch schon zurzeit praktizieren.  Es geht doch letztendlich bei vielen Entscheidungen nicht um die Frage eines Kernglaubensgutes. Bei den Pfarreientwicklungsprozessen geht es doch nicht um Glaubenssätze. Da kann ich doch durchaus demokratische Elemente einbeziehen. Ich stelle doch nicht das Glaubensbekenntnis zur Debatte. Der PEP im Bistum Essen zeigt nachdrücklich, dass eine gute Partizipation möglich ist und gelingen kann.

Wo Sie den PEP ansprechen: Mit der Schaffung von Großpfarreien sind 2007 Strukturen geschaffen worden, die auch eine Machtbündelung bedeuten und zum Beispiel eine weitere Hierarchie-Ebene zwischen Pfarrern und einfachen Pastören eingezogen haben.

Schlagheck: Ganz grundsätzlich gilt für mich: Der Weg in die Zukunft kann nur eine Verstärkung von Teilhabe sein, und zwar einer strukturierten Teilhabe. Das wäre ein wichtiger Punkt. Im Dialog mit der Psychoanalyse haben wir gelernt, dass, wenn ich über Macht rede, ich das sehr reflektiert tun muss – auch über die eigene Macht, die eigene Führungskompetenz und Verantwortung. Ich spreche ja nicht von Führungslosigkeit, Entscheidungslosigkeit und von Machtlosigkeit. Ich muss – erstens – klar haben, dass ich sie habe und wie ich damit umgehe. Und ich muss – zweitens – darüber nachdenken, anstatt es zu kaschieren und zu sagen, in der Kirche sei ja alles nur Dienst, wie es vor Kurzem noch einmal ein Bischof getan hat. Dann wird Umgang mit Macht sehr oft gefährlich, weil es dann im Grunde genommen um die Bewahrung von Macht geht und sie unreflektiert stattfindet. In Bistum Essen findet strukturierte Partizipation zum Beispiel im Bereich von Finanzen und Wirtschaft statt: In der Zusammensetzung dieses Rates ist klar, dass hier Personen entscheiden, die mit einer sehr hohen Sachkompetenz da sitzen. Und ich bin ziemlich sicher, dass dies noch in weiteren Bereichen geschehen wird.

Das muss aber, ganz allgemein gesprochen, nicht zum Abbau von Klerikalismus führen…

Schlagheck: Zum Klerikalismus gehören zwei Seiten: Der Kleriker, der dies lebt, und Getaufte, die dem Kleriker dies ermöglichen und sich selbst in diesem Kontext auch noch gut fühlen. Rainer Bucher, der Pastoratheologe aus Graz, hat in einer Arbeit über Klerikalismus deutlich geschrieben: Bestimmte Sorten von Klerikern im Sinne von Klerikalismus tun uns nicht gut. Und es tut wechselseitig nicht gut. Insofern gebe ich Ihnen Recht. Aber die Synodalität ist eigentlich ein alter katholischer Weg, Beratung zu haben. Wir arbeiten als Wolfsburg mit Menschen, die auch in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Aber wenn sie in einem Unternehmen, in einer Partei, einem Verband, wo auch immer, wirk­lich mit Gestaltungskraft auch entscheidungsfähig sind und entscheiden dürfen, dann wollen sie sich nicht in einer Kirche engagieren, in der dies alles ausgesetzt ist. Dann erreichen Sie diese Milieus nicht.

Sie haben auch Theologie studiert. War für Sie das Priesteramt jemals eine Option?

Schlagheck: Ich bin glücklich verheiratet, Familienvater, auch Großvater inzwischen. Das war mein beabsichtigter Lebensweg und ich habe sofort auf Lehramt studiert.

Hätte Ihre Entscheidung ohne Zölibat anders ausgesehen?

Schlagheck: Losgelöst von meiner Person: Ich bin davon überzeugt, dass, wenn wir über die Fragen der Zugangsvoraussetzungen zum Amt weiter diskutierten – in dem Sinne, wie es jetzt begonnen hat –, dass sich manches einfacher darstellen würde. Ich teile nicht die Auffassung eines Bischofs, der zum Beispiel sagt: Die Zölibatsfrage ist überhaupt nicht der Grund für die Engpässe, die wir jetzt haben. Es gibt viele Faktoren, die noch eine Rolle spielen, aber dieser Punkt ist sicher auch ein Grund. Wir haben hier immer wieder auch ehemalige Priester zu Gast als Teilnehmende, als Referierende, die ihr Amt aufgegeben haben – nicht zuletzt auch wegen des Zölibats. Manche wären sonst wohl dabeigeblieben, ganz starke Menschen, die der Kirche gutgetan hätten.

Inwieweit wirkt die Wolfsburg in die Kirche hinein?

Schlagheck: Ich bin ziemlich sicher, dass die Wolfsburg eine gesellschaftliche und innerkirchliche Kommunikationsplattform ist; denken Sie nur an den Dialogprozess. Und es gab und gibt die Dialoge mit dem Bischof zu diesen sogenannten heißen Eisen wie Fragen der Sexualität, Macht und der Rolle der Frauen in der Kirche. Das ist wichtig. Da fällt allerdings auf, dass dies nur noch bestimmte Gruppen erreicht und diejenigen, die sich damit befassen, sich auch schon früher daran abgekämpft haben. Darüber hinaus ist es aber unsere Aufgabe, und das tun wir hier auch, mit jungen Menschen zu arbeiten. Wir haben viele Projekte mit Schulen. Da geht es um andere Fragen: um Nachhaltigkeit und Schöpfung. Und da sind wir aus der Perspektive von Glauben, von Theologie immer anschlussfähig. Wir müssen auch diejenigen fördern und mit ihnen im Gespräch sein, die irgendwie Elite sind, und klarmachen: Aus deiner Begabung erwächst Verantwortung. Das sind Menschen, die wir oft in den Gemeinden nicht mehr erreichen. Und dann ist es gut, dass es verschiedene Orte gibt, an denen Menschen erreichbar sind. Und die Wolfsburg ist einer dieser Orte. Unsere Arbeit hier muss so offen sein, dass sich nicht nur ein bestimmtes Milieu oder eine bestimmte Gruppe angesprochen fühlt. Dem habe ich mich in meiner Arbeit immer verpflichtet gefühlt.
Interview: Boris Spernol

Zur Person

Zur Person Abschied in den Ruhestand

► Michael Schlagheck wechselt nach 24 Jahren als Direktor der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in den Ruhestand. Ende Juni übergibt der 64-jährige promovierte Päda­goge sein Amt an seine langjährige Stellvertreterin Dr. Judith Wolf. Die vielen Gespräche mit den Dozentinnen und Dozenten der „Wolfsburg“ werde er vermissen, sagt er: „Ein kreatives, leidenschaftliches Team, mit dem es großen Spaß machte, gemeinsam über den Weg der Kirche und der Gesellschaft nachzudenken.“

► Schlagheck hat der „Wolfsburg“ während seiner Amtszeit seinen Stempel aufgedrückt. Als Volkshochschule für katholische Bildungsbürger hat er die Akademiearbeit nie verstanden. Nicht nur am Puls der Zeit bleiben, sondern als kirchliches Bildungshaus vorausdenken. Das war stets der Anspruch.

► Schlagheck wurde 1955 in Gladbeck geboren und studierte nach dem Abitur Katholische Theologie und Anglistik für das Lehramt an der Universität Essen. Nach dem Ersten Staatsexamen studierte er dort Erwachsenenbildung, Politikwissenschaften und Katholische. Theologie mit dem Abschluss als Diplompädagoge.

► An der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn setzte er seine Studien in den Fächern Erziehungswissenschaft, Psychologie und Christliche Gesellschaftslehre fort und promovierte mit einer Arbeit über die geistigen Wurzeln der Katholischen Akademiearbeit in Pädagogik und der theologischen Arbeit Romano Guardinis.

► Vor seiner Tätigkeit in der Akademie arbeitete er als Assistent in einer Katholischen Studentengemeinde und später in verschiedenen Aufgabenfeldern des Bischöflichen Seelsorgeamtes Essen, zuletzt als Referent für Grundsatzfragen in der Leitung. Von 2001 bis 2011 war er auch Berater der Kom­mission für soziale und gesellschaftliche Fragen der Deutschen Bischofskonferenz.