Hamburg – Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer fordert „eine Kontrolle der Macht“ und weniger Klerikalismus in der katholischen Kirche. „Wir brauchen einen offenen Diskurs, eine Kirche, die sich kritisch mit ihren Strukturen auseinandersetzt, die teilweise noch aus feudalen Zeiten stammen“, sagte der Bischof im Interview von „Spiegel Online“ (Dienstag). Klerikalismus bedeute, dass es eine losgelöste Macht von Geistlichen im System gebe. Um dies zu vermeiden, sollte unter anderem getauften Frauen und Männern Verantwortung übertragen werden.
Zur kürzlich vorgelegten Missbrauchs-Umfrage der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) sagte der Bischof: „Dass die Zahlen erst jetzt erhoben und veröffentlicht werden konnten, hat auch mit der Anzahl und Unterschiedlichkeit der deutschen Ordensgemeinschaften zu tun.“ In seiner Zeit als Generaloberer der Herz-Jesu-Priester habe er in Fällen sexualisierter Gewalt mit staatlichen Behörden zusammengearbeitet.
Über 1.400 Kinder und Jugendliche von Missbrauch betroffen
Die DOK hatte Ende August eine in Eigenregie durchgeführte Umfrage unter 392 Gemeinschaften vorgelegt. Demnach hat es in den zurückliegenden Jahrzehnten Missbrauchsvorwürfe gegen mindestens 654 katholische Ordensleute in Deutschland gegeben. Wenigstens 1.412 Kinder, Jugendliche oder Schutzbefohlene waren von sexuellen Übergriffen betroffen. Die DOK-Vorsitzende Katharina Kluitmann sprach zudem von einer nicht näher bestimmbaren Dunkelziffer. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung sei dem Dachverband der Orden nicht möglich, weil es an Geld und Personal mangele.
Die Corona-Krise habe ihm gezeigt, dass Menschen in schwierigen Zeiten stärker zusammenhalten als viele vermuten, sagte Wilmer. „Corona ist eine Offenbarung.“ Von den Initiativen und Ideen der Mitarbeiter in seiner Diözese sei er beeindruckt gewesen. Seelsorger und karitative Initiativen der Kirche hätten auch während des Lockdowns viel getan.
Schockstarre zu Beginn der Pandemie
„Zu Beginn der Pandemie herrschten Schockstarre und eine gewisse Lähmung, die dazu geführt haben, dass wir auf Abstand gingen“, erklärte Wilmer. „Wir konnten ja nicht das Leben predigen und zugleich fahrlässig damit umgehen.“ Kritiker werfen der Kirche vor, während der Phase der strengen Kontaktbeschränkungen im Frühjahr nicht präsent genug gewesen zu sein.