Vatikanstadt – Papst Franziskus ermahnt Europa angesichts der Corona-Krise zu Solidarität und zu Besinnung auf seine Werte. Der Kontinent müsse wieder zu sich selbst finden, betonte er in einem am Dienstag veröffentlichten Brief an Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin. Der Chefdiplomat des Papstes vertritt den Vatikan bei mehreren Gedenkanlässen in Brüssel. Wegen neuer Corona-Maßnahmen dort musste Parolin allerdings seine Brüssel-Reise an diesem Mittwoch absagen. Die Begegnungen sollen per Videokonferenz stattfinden.
„Versuchung zur Autonomie“
Besorgt äußert sich Franziskus in dem Schreiben über eine jüngst gewachsene „Versuchung zur Autonomie“, die in Gegensätze und Konflikte führe. Er träume von „einem solidarischen und großzügigen Europa, einem einladenden und gastfreundlichen Ort“. Die Pandemie stelle die EU-Staaten vor die Wahl, einer „Versuchung von Alleingängen“ nachzugeben, wie sie im abgelaufenen Jahrzehnt prägend gewesen sei, oder die Werte der Geschwisterlichkeit wiederzuentdecken, die die Gründer der Union beseelt hätten. Es gebe derzeit „Indizien für einen Rückschritt“, warnte Franziskus.
Herausforderung der Migration
Europa dürfe sich nicht in den Bann derer ziehen lassen, „die Klage und Spaltung zu ihrem persönlichen, sozialen und politischen Lebensstil machen“. Der Kontinent habe weiter eine zentrale Rolle für die Menschheit zu spielen, wenn auch „mit anderen Akzenten“ als in der Vergangenheit. Die Zukunft Europas und sein „ureigener Beitrag“ besteht nach Worten des Papstes nicht in der „Wiedererlangung einer politischen Vorherrschaft oder einer zentralen geografischen Stellung“ und auch nicht in der Entwicklung von Lösungen für wirtschaftliche und soziale Probleme. „Die Originalität Europas liegt vor allem in seinem Menschenbild und in seiner Weltsicht; in seiner Fähigkeit, Initiativen zu ergreifen, und in seiner praktischen Solidarität.“ Als Eckpunkte der Humanität nennt Franziskus den Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende, aber auch die Förderung von Beschäftigung und Bildung sowie den Schutz der Schwächsten.
Europa als Gemeinschaft müsse „die besonderen Eigenschaften jedes Menschen und jedes Volkes“ würdigen. Die Pandemie habe gezeigt, „dass niemand es allein schafft und dass eine gewisse individualistische Auffassung des Lebens und der Gesellschaft nur zu Entmutigung und Einsamkeit führt“, so der Papst. Ein solidarischer und geschwisterlicher Kontinent hingegen sei in der Lage, „die Unterschiede und den Beitrag jedes Einzelnen fruchtbar zu machen“. In dem Zusammenhang verwies er auch auf den „grundlegenden Unterschied zwischen Mann und Frau“, den es zu achten gelte.
Große Verantwortung für Christen
Die Herausforderung der Migration lasse sich nur als Solidargemeinschaft bewältigen, unterstrich der Papst. Erneut forderte er eine bessere Integration in die Aufnahmegesellschaft. Weiter bekannte er, er träume „von einem gesund säkularen Europa“, in dem Religion und Staat unterschiedliche, aber nicht entgegengesetzte Wirklichkeiten bezeichneten. Der Kontinent solle offen sein für Transzendenz und freie Glaubensausübung und die Beteiligung von Gläubigen am gesellschaftlichen Diskurs gestatten.
„Die Zeit des Konfessionalismus ist vorbei, aber hoffentlich auch die eines gewissen Säkularismus, der seine Türen für die anderen und vor allem für Gott verschließt“, schreibt Franziskus. Es sei offenkundig, „dass eine Kultur oder ein politisches System, das die Offenheit für Transzendenz nicht achtet, auch die menschliche Person nicht angemessen respektiert“. Christen hätten ihrerseits eine große Verantwortung, in der Gesellschaft ein „Bewusstsein für Europa wiederzuerwecken“. Anlass des Schreibens sind der 40. Jahrestag der Gründung der EU-Bischofskommission COMECE und der 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und den Europäischen Gemeinschaften.