Seit Jahrhunderten machen Menschen Lärm, um die Dämonen zu vertreiben. Mit dem Böllern entlädt sich auch heute noch ein Druck, der auf uns lastet. Doch Raketen und Versammlungsverbot – wie geht das zusammen?
Bonn – Gegen Corona scheint bisher kein Abwehrzauber zu wirken, auch wenn viele Menschen in den Impfampullen der Zukunft eine magische Substanz erblicken. Der Virus versetzt die Welt seit Beginn dieses scheidenden Jahres in einen permanenten Ausnahmezustand – und kein Ende ist in Sicht. Begegnungen zwischen Menschen finden außerhalb des familiären Rahmens nur hinter Plexiglas und Maske statt. Wir alle fühlen uns wie unter einer riesigen Käseglocke, der Weltenlärm dringt nicht mehr an uns heran.
Umso mehr erwacht in vielen das Bedürfnis, dagegen Krach zu schlagen. Wie Robinson bei seiner Strandung auf der einsamen Insel würden wir gerne lauthals in den Dschungel rufen: „Hallo ist hier jemand?“ Und jeder Lärm, der nicht von der Natur erzeugt wird, würde uns sagen: „Du bist nicht allein“.
Die Knallerei ist auch eine Abfuhr angestauter Aggressionen
Die Böllerei an Silvester würde dieses Jahr wohl besonders lange und laut ausfallen, gäbe es da nicht das Verkaufsverbot von Knallartikeln aller Art. Allenfalls Restbestände aus den Vorjahren könnten deshalb im privaten Rahmen das neue Jahr begrüßen. Dabei gibt es mindestens einen psychologischen und einen religiösen Grund, warum wir gerne Raketen in den Himmel schießen, die dort in den buntesten Farben explodieren. Die Knallerei ist auch eine Abfuhr angestauter Aggressionen; Spannungszustände scheinen förmlich zu verpuffen.
In Sydney wird traditionell vor der Oper das größte Feuerwerk der Welt gezündet, es dauert genau 12 Minuten. Jede Feuerwerksminute steht für einen Monat des ausklingenden Jahres. Das, was geschah, wird nun in den Wind geschossen. Das Land Ecuador hat einen besonders drastischen Silvesterbrauch entwickelt: Menschengroße Puppen werden dort mit Feuerwerkskörpern ausgestopft und dann angefacht. Die Köpfe erinnern an Hexen oder verhasste Politiker – der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt.
Den eigenen Dämon von der Leine zu lassen in einer ausgelassenen Silvesternacht, ist damit also ein verinnerlichter Brauch, den es in allen Kulturen gibt. Böses lässt sich durch Lärm vertreiben. In Deutschland reicht er bis ins 14. Jahrhundert zurück. Mit der Erfindung des Schwarzpulvers in China kam erst richtig Wumms in die Sache.
Heidnischer Brauch, die Geister des alten Jahres an Silvester durch Licht, Krach und Feuer zu vertreiben
Der Lärmzauber zählt zu den sogenannten apotropäischen, also Unheil abwehrenden Handlungen: Als lautstarker Gegenzauber soll er einen schädigenden Zauber neutralisieren. Der ursprünglichheidnische Brauch, die Geister des alten Jahres an Silvester durch Licht, Krach und Feuer zu vertreiben, wurde in christlicher Zeit zur Glückserwartung auf das kommende Jahr. Die Leuchtkörper sollen ein leuchtendes, das heißt erfolgreiches Jahr heraufbeschwören.
Doch ein Stück Ahnenkult bleibt: Zum Silvesterfeuerwerk in London – dem größten in Europa – singen die Briten ebenso wie ihre schottischen Landsleute das Gedenklied an die Toten, „Auld Lang Syne“. In der letzten Strophe heißt es: „Gib deine Hand, nimm meine hier und mache dich bereit für einen letzten Abschiedsschluck auf die vergang’ne Zeit“.
Aktion „Brot statt Böller“
Wer wollte nicht, dass wir diese Zeilen nach diesem ersten Corona-Jahr schon singen könnten – unter diesen Umständen aber ist es für ein Freudenfeuer noch zu früh. Im Jahr 2019 wurden etwa 133 Millionen Euro für Feuerwerke in Deutschland ausgegeben. Seit 1982 appelliert die Aktion „Brot statt Böller“, dieses Geld lieber für Nahrung und Entwicklungshilfe auszugeben, statt es zu verballern, von der steigenden Feinstaubbelastung in den Metropolen ganz zu schweigen.
Die Medizin hat mittlerweile herausgefunden, dass feinstaubbelastete Bronchien und Lungen auf den Covid-19-Virus besonders einladend wirken und den Krankheitsverlauf erschweren. Doch wer Dämonen austreiben will, und seien es die eigenen, für den sind belastete Aerosole erstmal nachrangig.
Aberglauben und Vernunft lassen sich nur schwer miteinander vereinbaren
Aberglauben und Vernunft lassen sich auch hier nur schwer miteinander vereinbaren. Aber haben wir nicht alle das Gefühl, dass es mit wissenschaftlicher Forschung alleine nicht getan ist und wir uns nach einem Donnerschlag sehnen, der diesem schrecklichen Pandemie-Spuk ein Ende bereitet?