In der Kontroverse über einen Gastbeitrag von Wolfgang Thierse über Identitätspolitik hat der frühere Bundestagspräsident gesagt, er nehme die Äußerungen von SPD-Parteichefin Saskia Esken ernst.
Bonn – In der Kontroverse über einen Gastbeitrag von Wolfgang Thierse über Identitätspolitik hat der frühere Bundestagspräsident gesagt, er nehme die Äußerungen von SPD-Parteichefin Saskia Esken ernst. „Ich fand es immer ganz selbstverständlich, dass man mich und meine Äußerungen ernst nehmen sollte. So halte ich es auch mit Saskia Esken. Ich nehme ihre Distanzierung von mir ernst“, sagte Thierse im „Cicero“-Interview. „Ich bitte sie öffentlich darum, zu sagen, ob mein Bleiben in der Partei schädlich oder nützlich ist.“
Thierse sagte, er gehe nach wie vor davon aus, dass Esken mit ihrer Kritik ihn gemeint habe. Es gehe in dem Streit jedoch nicht um seine Person, sondern um die Sache. Nach seinem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hätten sich in hunderten E-Mails die meisten Menschen bei ihm dafür bedankt, dass er den Mut besessen habe, Dinge auszusprechen, die sie sich nicht mehr zu sagen trauten.
Allerdings finde er sich gar nicht mutig, so Thierse, der über Jahre Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken war. Er habe in dem Text lediglich Bedenken geäußert, dass Identitätspolitik Gefahr laufe, das Fundament der Mehrheitsgesellschaft zu zerstören, unabhängig davon, ob sie von rechts oder links komme. Er sei davon überzeugt, dass er einen „zutiefst sozialdemokratischen und grundvernünftigen Text“ geschrieben habe.
Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) warf seiner Partei in der „Welt“ (Samstag) schwere Fehler vor. Esken und Parteivize Kevin Kühnert repräsentierten nicht die gesamte SPD und vergriffen sich im Ton, wenn sie in politisch umstrittenen Fragen andere Meinungen als „beschämend“ bezeichneten. Eine Partei wie die SPD müsse „innerparteiliche Toleranz“ besonders ernst nehmen.
Thierse habe über ein „zentrales Problem der demokratischen Gesellschaft“ geschrieben. Von Dohnanyi sprach sich zwar für einen „Reinigungsprozess“ aus, wenn es zum Beispiel um eine zeitgemäße Wortwahl gehe. Zudem müssten Fehler in der Geschichte benannt und kritisiert werden. Dennoch gehörten bestimmte Aspekte zur Vergangenheit dazu: „Verstehen ist dann oft richtiger als urteilen.“ Er finde es „grundfalsch, wenn wir Geschichte nicht nach ihrer Zeit beurteilen, sondern nach unseren heutigen Maßstäben.“
Nationalistische, rassistische und gewaltorientierte Meinungen dürften nicht toleriert werden, betonte der Politiker. „Aber eine Demokratie zerstört sich selbst, wenn sie demokratische Minderheitsmeinungen unterdrückt.“ Esken und Kühnert sollten sich entschuldigen. Letztlich sei ein Land mit viel Meinungsfreiheit ein „erfrischendes Land“.
Esken und Kühnert hatten sich „beschämt“ über SPD-Vertreter gezeigt, die ein „rückwärtsgewandtes Bild der SPD“ zeichneten. Damit dürfte die Rolle von Gesine Schwan bei einer Podiumsdiskussion gemeint gewesen sein, vor allem aber der Gastbeitrag Thierses. Er und Esken hatten am Mittwoch telefoniert. Esken sagte dem „Spiegel“ danach, sie bleibe mit Thierse „im Austausch über sozialdemokratische Wege für eine Gesellschaft, die Diskriminierung und Ausgrenzung überwindet“.