Europäische Gesellschaften tief gespalten

Fragen zu nationaler Zugehörigkeit und Bedrohungsgefühlen stehen im Fokus von Wissenschaftlern. Ihr erster Arbeitsbericht zeigt: Europäische Gesellschaften sind identitätspolitisch in zwei verfestigte Lager gespalten.

Fragen zu nationaler Zugehörigkeit und Bedrohungsgefühlen stehen im Fokus von Wissenschaftlern. Ihr erster Arbeitsbericht zeigt: Europäische Gesellschaften sind identitätspolitisch in zwei verfestigte Lager gespalten. Die einen sind skeptisch gegenüber Fremden, die anderen offen für Menschen aus anderen Kulturen: Wissenschaftler beobachten in Gesellschaften europäischer Länder eine Spaltung in zwei verfestigte Lager. Konflikte wie jene um nationale Zugehörigkeit, Bedrohungsgefühle und fehlende Anerkennung stünden nicht unverbunden nebeneinander, erklärt der Psychologe Mitja Back der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Vielmehr habe sich über diese Themenkomplexe hinweg ein gemeinsamer Identitätskonflikt herausgebildet – mit konträren Positionen an beiden Enden des Spektrums.

„Verteidiger“ und „Entdecker“ im Identitätskonflikt

Ein interdisziplinäres Forscherteam aus Wissenschaftlern vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Universität Münster bezeichnet diese beiden Gruppen als „Verteidiger“ und „Entdecker“. In einem Arbeitsbericht beschäftigen sie sich mit einer Umfrage, die Ende 2020 stattfand und an der sich rund 5.000 Menschen aus Deutschland, Frankreich, Polen und Schweden beteiligten. Es sei die bisher umfassendste Umfrage zu Identitätskonflikten in Europa, heißt es.

„Bei den entgegengesetzten Positionen sind vor allem unterschiedliche Identitätskonzepte entscheidend“, erläutert Back. Die „Verteidiger“ definiert das Forscherteam als jene Personen, die ein enges Konzept der nationalen Zugehörigkeit befürworten. Aus ihrer Sicht gehören zum eigenen Land zum Beispiel nur, wer dort geboren wurde, Vorfahren der ethnisch-nationalen Mehrheit hat und Teil der dominanten Religion ist. Durch Fremde fühlen sie sich bedroht.

Forscher: polarisierte Meinungen können sich zu Mehrheiten entwickeln

„Entdecker“ hingegen verfolgen eine offeneres Konzept von Zugehörigkeit, wie es heißt. Vielfalt und verschiedene Lebenskonzepte verstehen sie als Chance. In Deutschland machten beide Gruppen zusammen rund ein Drittel der Bevölkerung aus. Dabei zählten 20 Prozent zu den „Verteidigern“ und 14 Prozent zu den „Entdeckern“. In einem „semi-autoritär geführten Land wie Polen“ lägen die zwei Gruppen zusammen bei 72 Prozent. Darin sehen die Wissenschaftler einen Beleg, dass sich polarisierte Meinungen zu Mehrheiten entwickeln können.

„Interessant ist, dass diese Konzepte aufs engste verbunden sind mit der unterschiedlichen Wahrnehmung der politisch-gesellschaftlichen Repräsentation“, führt der Psychologe aus. „Verteidiger“ seien unzufriedener mit der Demokratie, fühlten sich marginalisiert und misstrauten politischen Institutionen. Sie neigten zu Verschwörungstheorien; ihre demokratischen Vorstellungen könnten als anti-pluralistisch bezeichnet werden.

Wie unterscheiden sich die Gruppen?

Auch in kultureller, religiöser, psychologischer und sozialer Hinsicht unterscheiden sich beide Gruppen, wie die Umfrage zeigt. Es ergeben sich laut Back gewisse Muster: „Verteidiger“ sind älter und weniger gebildet, sie wohnen ländlicher, sind heimatverbundener und religiöser. Bei den „Entdeckern“ verhalte es sich genau umgekehrt. Dahinter steckten verschiedene psychologische Grundbedürfnisse: Für die erste Gruppe stünden Stabilität und Sicherheit im Fokus, die zweite Gruppe setze auf Offenheit und Veränderung.

„Die Unterschiede sind in der Sozialisierung begründet, aber es sind eben auch Persönlichkeitsunterschiede, die Menschen nun mal haben“, so Back. Diese Differenzen werde es immer in einer Gesellschaft geben, „und das ist per se auch nicht problematisch“. Denn für eine Gesellschaft sei beides wertvoll und wichtig: soziale Strukturen zu sichern und neue Strukturen aufzubauen.

Identitätskonflikt in psychologischen Grundbedürfnissen begründet

Weil der Identitätskonflikt in psychologischen Grundbedürfnissen begründet ist, sei er – im Gegensatz zu eher materiell basierten Konflikten – schwerer verhandelbar, sagt der Psychologe. Positionen hätten sich verhärtet; das reiche bis zur Abwertung der je anderen Gruppe. „Aus sicherheitsorientierten Menschen werden in der Fremdwahrnehmung aggressive Fremdenfeinde und aus offenen Menschen weltfremde Missionare.“

Back sieht Gründe für die Verstärkung des Identitätskonfliktes vor allem in einer starken Globalisierungsentwicklung und Krisen wie der Pandemie, der Klima- und Finanzkrise sowie hohen Fluchtbewegungen. Mit solchen Entwicklungen könnten besser Personen umgehen, die an sich offen für Veränderungen seien.

Angemessene Reaktion

Es brauche eine angemessene Reaktion von Politik und Gesellschaft: „Wir haben es nicht nur mit vielen einzelnen Konflikten zu tun, die unverbunden nebeneinanderstehen und für die es entsprechend unterschiedliche Antworten braucht“, sagt Back. „Es ist wichtig, beide Arten von Bedürfnissen im demokratischen Austausch als legitim zu erachten und die konträren Positionen auf ihren je funktionalen Kern zurückzuführen, im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Kompromisse zu finden und Polarisierung zu stoppen.“

Von Annika Schmitz (KNA)