Contergan-Skandal: Die Opfer warten auf eine deutliche Entschuldigung

Betroffene haben fehlgebildete Arme und Beine. Der Contergan-Skandal überschattete die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik. Vor 60 Jahren nahm die Firma Grünenthal das Medizin-Produkt vom Markt.
Betroffene haben fehlgebildete Arme und Beine. Der Contergan-Skandal überschattete die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik. Vor 60 Jahren nahm die Firma Grünenthal das Medizin-Produkt vom Markt.

Margit Hudelmaier war von 1992 bis 2014 Vorsitzende des Bundesverbandes Contergan-Geschädigter und gehört seit 2015 dem Vorstand der Contergan-Stiftung an. –Foto: Manuel Thomé/Conterganstiftung

Es wurde als sicheres Medikament gegen Schlaflosigkeit angepriesen. Doch bei Schwangeren hatte die Einnahme von Contergan verheerende Folgen: Sie führte zu Totgeburten und bei etwa 5.000 bis 10.000 Säuglingen zu Missbildungen. Vor 60 Jahren nahm die Aachener Herstellerfirma Grünenthal das Medikament vom Markt – vier Jahre nach Einführung des Schlafmittels. 1957 hatte das Unternehmen das Präparat auf den Markt gebracht. Es verdichtete sich der Verdacht, dass der Wirkstoff Thalidomid die Ursache für die Fehlbildungen ist. Schließlich zog Grünenthal am 27. November 1961 das Medikament zurück. Nach wie vor streitet der Bundesverband Contergangeschädigter mit dem Unternehmen und der Eigentümerfamilie Wirtz um die Anerkennung von Schuld.

NRW-Studie über Contergan-Skandal sieht „gezielte Desinformation und Verzögerungstaktiken“

Als 1968 der Prozess gegen Grünenthal begann, saßen zunächst neun Personen auf der Anklagebank, die von fast 20 Strafverteidigern vertreten wurden. Die Anklage wegen vorsätzlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung wurde nach 283 Verhandlungstagen vom Landgericht Aachen fallengelassen und der Prozess im Dezenber 1970 wegen „geringfügiger Schuld“ eingestellt. Wenige Monate zuvor hatte es schon einen zivilrechtlichen Vergleich gegeben: Der Hersteller zahlte 100 Millionen Mark als Entschädigung. Die Summe bildete zusammen mit demselben Betrag vom Staat den Grundstock für die Conterganstiftung mit Sitz in Köln, deren Finanzmittel und Leistungen für die Betroffenen mehrfach erhöht wurden. Ein weiterer und für viele Opfer schwer zu ertragender Inhalt des Vergleichs: der Verzicht auf jede weitere Klage gegen Grünenthal.

Eine 2016 vorgestellte Studie der nordrhein-westfälischen Landesregierung über den Skandal belegt, dass die Gesundheits- und Justizbehörden eine schwache Figur abgaben. Wegen der damaligen Rahmenbedingungen für die Medikamentenzulassung habe es den staatlichen Stellen „massive Schwierigkeiten“ bereitet, die Wirkung von Conterganzu klären, die Zahl der Betroffenen festzustellen und das Schlafmittel verbieten zu lassen. Zugleich weist die Untersuchung darauf hin, dass die Behörden Grünenthal völlig unterlegen waren. Als erste schwere Nebenwirkungen von Contergan beobachtet worden seien, habe der Hersteller mit „gezielter Desinformation und Verzögerungstaktiken“ versucht, das Mittel am Markt zu halten. Das Unternehmen habe „erheblich schneller größere Ressourcen mobilisieren“ können als staatliche Stellen – etwa durch kostspielige Anwälte. Kritischen Beamten habe Grünenthal mit Dienstaufsichtsbeschwerden und Schadenersatz gedroht.

Bundesverband Contergangeschädigter drängt das Unternehmen, sich seiner Verantwortung zu stellen

Aachen/Köln – Es wurde als sicheres Medikament gegen Schlaflosigkeit angepriesen. Doch bei Schwangeren hatte die Einnahme von Contergan verheerende Folgen: Sie führte zu Totgeburten und bei etwa 5.000 bis 10.000 Säuglingen zu Missbildungen. Vor 60 Jahren nahm die Aachener Herstellerfirma Grünenthal das Medikament vom Markt - vier Jahre nach Einführung des Schlafmittels. 1957 hatte das Unternehmen das Präparat auf den Markt gebracht. Es verdichtete sich der Verdacht, dass der Wirkstoff Thalidomid die Ursache für die Fehlbildungen ist. Schließlich zog Grünenthal am 27. November 1961 das Medikament zurück. Nach wie vor streitet der Bundesverband Contergangeschädigter mit dem Unternehmen und der Eigentümerfamilie Wirtz um die Anerkennung von Schuld.

Contergan wurde im November 1961 vom Markt genommen –Foto: Grünthal.

Der Bundesverband Contergangeschädigter drängt das Unternehmen, sich seiner Verantwortung zu stellen. Der Verein wirft Grünenthal vor, den Skandal nur als Folge einer „Tragödie“ zu beschreiben und nicht als Resultat eigenen schuldhaften Handelns. Demgegenüber betont Grünenthal, dass die Firma bereits über 100 Millionen Euro in die Conterganstiftung zur Opferentschädigung eingezahlt habe. Zudem sei für weitere Hilfeleistungen 2012 die Grünenthal-Stiftung gegründet worden. „Wir bedauern die weitreichenden Folgen für die betroffenen Menschen und ihre Familien zutiefst“, heißt es auf der Unternehmens-Homepage.

Die Leistungen der Conterganstiftung belaufen sich seit 1972 geschätzt auf rund 1,8 Milliarden Euro. Deren monatliche Zahlungen wurden schrittweise erhöht, aber erst 2013 auf ein auskömmliches Niveau angehoben. Heute liegen die Conterganrenten zwischen 740 und 8.400 Euro. Opfer kritisieren, dass die Anhebung von vor acht Jahren nur aus Steuergeldern und ohne Beteiligung von Grünenthal erfolgt sei.

Weltweit rund 2500 Geschädigte

„Wir werden die Contergan-Tragödie niemals vergessen und bedauern zutiefst die weitreichenden Auswirkungen auf die betroffenen Menschen und deren Familien. Unsere Verantwortung nehmen wir ernst: Mit der ‚Grünenthal-Stiftung zur Unterstützung Thalidomidbetroffener‘ möchten wir einen täglichen Beitrag leisten, das Leben der Betroffenen zu verbessern“, erklärt unterdessen eine Grünthal-Unternehmenssprecherin. „Aus Gesprächen mit Betroffenen wissen wir, dass vor allem die Mobilität und das Führen eines weitgehend eigenständigen Lebens ein großes Anliegen sind.“ Die Projekte der Grünenthal-Stiftung konzentrierten sich deshalb darauf, Betroffenen „eine stärkere Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen“. So unterstützte die Stiftung in Form von Sachleistungen Umbauten von Wohnräumen oder Fahrzeugen oder finanziere die Begleitung für den Alltag.

Die weltweit noch rund 2.500 Geschädigten, davon etwa 2.230 aus Deutschland, sind nun um die 60 Jahre alt. Viele von ihnen leiden unter Schäden an Wirbelsäule, Gelenken und Muskulatur. Die Betroffenen beunruhigen Hinweise, dass ihre Blut- und Nervenbahnen nicht an den üblichen Stellen liegen und bei Operationen unbeabsichtigt durchtrennt werden könnten. Eine Studie, finanziert aus Mitteln der Conterganstiftung und des Bundes, soll Klarheit bringen. Für die Untersuchung hat die Universität Köln bereits den Auftrag erhalten. Wegen Corona verzögert sich noch der Beginn.

Von Andreas Otto (KNA)

Contergan-Experimente an Kindern: Caritas legt Dokumentation vor

Stiftungsvorstand Hudelmaier zum Contergan-Aus vor 60 Jahren: „Das war ein schuldhaftes und kein schicksalhaftes Versagen“

Vor 60 Jahren wurde Contergan vom Markt genommen – vier Jahre nach Einführung des Schlafmittels. Schwangere hatten nach Einnahme des Medikamentes mit dem Wirkstoff Thalidomid Kinder tot oder mit Missbildungen wie fehlenden oder verkürzten Armen und Beinen zur Welt gebracht. Zu den Betroffenen gehört Margit Hudelmaier. Die heute 61-Jährige war von 1992 bis 2014 Vorsitzende des Bundesverbandes Contergan-Geschädigter und gehört seit 2015 dem Vorstand der Contergan-Stiftung an.

Frau Hudelmaier, wie kommen Sie mit Ihren Einschränkungen zurecht?

Hudelmaier: Ich gehöre zu jenen, deren Hände direkt an der Schulter anschließen. Ich brauche wie 80 Prozent der Betroffenen im Alltag ständig Unterstützung. Ich habe das Glück, dass mir mein Mann beim Waschen oder Anziehen hilft. Er macht auch den ganzen Haushalt. Trotz allem habe ich es geschafft, Sozialpädagogik zu studieren. Seit 39 Jahren arbeite ich als Fachberaterin in der Altenhilfe und bin zudem ehrenamtlich engagiert.

Am 27. November 1961 nahm die Aachener Firma Grünenthal Contergan vom Markt. Für Sie persönlich kam das zu spät. Hadern Sie damit?

Hudelmaier: Na klar. Nach den vielen Hinweisen auf Schädigungen hätte das Medikament schon viel früher aus dem Verkehr gezogen werden müssen. Dem standen offenbar wirtschaftliche Gründe entgegen.

Das Verfahren gegen Grünenthal wurde wegen „geringfügiger Schuld“ eingestellt. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an diesen Richterspruch denken?

Hudelmaier: Contergan hat bei rund 10.000 Menschen zu exorbitanten Schäden geführt – da fehlt mir jedes Verständnis dafür, von „geringfügiger Schuld“ zu reden. Aber an vielen Stellen der Gesellschaft mangelt es ja an Gerechtigkeit, gerade wenn viele Entscheidungsträger eine Rolle spielen.

Auf zivilrechtlicher Ebene kam es 1970 zu einem Vergleich: Keine Klagen mehr gegen Grünenthal gegen die Zahlung von 100 Millionen Mark Entschädigung als Grundstock für die Contergan-Stiftung. Kam das Pharma-Unternehmen damit zu gut weg?

Hudelmaier: Eindeutig. Das stößt mir schon sauer auf. Schon 1997 waren die Mittel alle aufgebraucht, obwohl auch der Staat dieselbe Summe in die Stiftung eingebracht hatte. Später hat die Firma weitere 50 Millionen Euro gezahlt. Aber dieses Friedensangebot hat das Unternehmen nicht umgebracht.

Der Bundesverband Contergan-Geschädigter wirft Grünenthal vor, den Skandal nur als Folge einer „Tragödie“ zu beschreiben und nicht als Resultat eigenen schuldhaften Handelns. Vermissen auch Sie ein deutlicheres Wort der Entschuldigung?

Hudelmaier: Das war auf jeden Fall ein schuldhaftes und kein schicksalhaftes Versagen – auf die rechtzeitigen Warnungen hätte man eben viel schneller reagieren müssen. Ich bin ohne Entschuldigung 61 Jahre alt geworden – und brauche sie nicht für mein Glück. Aber jeder Betroffene hadert anders mit seinem Schicksal. Eine Entschuldigung von Grünenthal einzufordern, ist aber vergebene Liebesmühe.

Neben der Contergan-Stiftung hat Grünenthal ja noch eine eigene Stiftung aufgebaut…

Hudelmaier: … ich persönlich bin zu stolz, dort einen Antrag zu stellen. Andere benötigen vielleicht die Mittel. Aber die Grünenthal-Stiftung stellt gerade mal drei Millionen Euro jährlich zur Verfügung. Das ist doch kein Vergleich zur Contergan-Stiftung, die pro Jahr 175 Millionen Euro ausgibt.

Mit viel Steuergeld schafft es die Contergan-Stiftung seit acht Jahren, den Betroffenen auskömmliche Renten bis rund 8.000 Euro zu zahlen. Welche Bedeutung hatte dieser Schritt?

Hudelmaier: Das war ein Meilenstein in unserem jahrzehntelangen Kampf. Vielen Betroffenen hat es die Zukunftsängste genommen. Wenn man wegen versteifter Gelenke mit 50 aus dem Berufsleben ausscheiden muss und vielleicht noch Kinder zu versorgen hat, dann sichert die Rente die Existenz.

Reicht das Geld, um die Versorgung der teils schwer behinderten Menschen zu gewährleisten?

Hudelmaier: Ich weiß es nicht. Solange ich mit meinem Mann lebe, der mich unterstützt, komme ich über die Runden. Aber was ist, wenn ich einmal auf fremde Pflegekräfte angewiesen bin?

Die Betroffenen beunruhigen Hinweise, dass ihre Blut- und Nervenbahnen nicht an den üblichen Stellen liegen und bei Operationen unbeabsichtigt durchtrennt werden könnten. Wie steht es um eine geforderte Studie, die Aufklärung bringen soll?

Hudelmaier: Die Finanzierung der Studie ist durch Stiftungs- und Bundesmittel gesichert und der Auftrag an die Universität Köln vergeben. Wir warten auf den Startschuss. Aber wegen Corona hat sich alles verzögert.

Wie hat der Contergan-Skandal Deutschland verändert?

Hudelmaier: Sehr. Unsere Eltern waren Pioniere der Selbsthilfearbeit: Sie haben sich selbst vertreten und nicht vertreten lassen. Ihrem Engagement verdanken wir die Aktion Sorgenkind, die heute Aktion Mensch heißt, sowie die Fernsehlotterie. Die Contergan-Geschädigten waren als Behinderte auch immer Teil der Gesellschaft – und sind damit zum Motor der Inklusionsidee geworden. Nicht zuletzt wurde wegen des Skandals in der Bundesrepublik die Arzneimittelzulassung und -kontrolle erstmals geregelt – ein gewaltiger Fortschritt.

Wie gehen Sie denn selbst mit Medikamenten um?

Hudelmaier: Ich habe ein sehr zwiespältiges Verhältnis dazu. Ich bin sehr dankbar, dass ich bislang keine starken Medikamente nehmen musste.

Und wie sieht es mit einer Corona-Impfung aus?

Hudelmaier: Ich bin geimpft – aber weniger aus eigener Überzeugung, sondern weil mein Mann darauf gedrängt hat. Allerdings sind zwei Bekannte schwer an Corona erkrankt, das will ich nicht erleben. Und als schwer geschädigte Person immer zu einem Test zu müssen, hätte mich auch stark belastet. Vor allem aber bin ich sehr viel auf fremde Menschen angewiesen – da muss ich mich einfach schützen.

Von Andreas Otto (KNA)

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Nach Medikamentenversuchen in der Caritas-Lungenheilanstalt Maria Grünewald in Wittlich (Rheinland-Pfalz) zu Contergan liegt nun eine Dokumentation der Aufarbeitung vor. Dies gab die St. Raphael Caritas Alten- und Behindertenhilfe (CAB) bekannt.