Sich selbst etwas vorzumachen ist normal und kann kurzfristig sinnvoll sein, langfristig allerdings nicht, sagen Forscher der Ruhr-Universität Bochum.
Vier Strategien der Selbsttäuschung
„Alle Menschen täuschen sich selbst, und zwar gar nicht so selten“, sagt Albert Newen vom RUB-Institut für Philosophie II. „Wenn beispielsweise ein Vater überzeugt ist, dass sein Sohn ein guter Schüler ist und dieser dann schlechte Noten nach Hause bringt, wird er vielleicht erst einmal sagen, dass das Fach nicht so wichtig ist oder der Lehrer den Stoff nicht gut erklärt hat.“ Als Reorganisation der Überzeugungen bezeichnen die Forscher diese Strategie der Selbsttäuschung. In ihrem Artikel beschreiben sie noch drei weitere Strategien, die Menschen häufig anwenden und die noch früher ansetzen, um unliebsame Tatsachen erst gar nicht an einen heranzulassen.
Dazu zählt das Auswählen von Tatsachen durch gezieltes Handeln: Menschen vermeiden Orte oder Personen, die problematische Tatsachen an sie herantragen könnten, etwa den Elternsprechtag. Eine weitere Strategie ist das Zurückweisen von Tatsachen, indem Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Quelle geäußert werden. Solange der Vater von den Schulproblemen seines Sohnes nur indirekt hört und nicht die Noten sieht, kann er die Probleme ignorieren. Die letzte Strategie bezeichnen Newen und Marchi als das Generieren von Tatsachen aus einer mehrdeutigen Sachlage: „Wenn etwa die freundliche Mathematiklehrerin vorsichtig zu verstehen gibt, dass der Sohn nicht zurechtkommt und der Vater bei Schwierigkeiten eine klare Ansage erwartet hätte, deutet er die große Freundlichkeit und die vorsichtige Beschreibung eventuell als positive Bewertung der Fähigkeiten seines Sohnes“, führt Francesco Marchi das Beispiel aus.
Alle vier Strategien bezeichnen die Forscher als typische psychologische Denkneigungen. Selbsttäuschung sei kurzfristig weder unvernünftig noch nachteilig für Menschen, mittel- und langfristig jedoch immer. „Es handelt sich dabei nicht um böswillige Vorgehensweisen, sondern einen Teil der kognitiven Grundausstattung des Menschen, um das bewährte Selbst- und Weltbild zu bewahren“, so Newen. In normalen Zeiten mit wenigen Änderungen sei die Tendenz, an bewährten Sichtweisen festzuhalten, hilfreich und auch evolutionär etabliert. „Allerdings ist diese kognitive Neigung in Zeiten von radikal neuen Herausforderungen, die rasche Verhaltensänderungen erfordern, fatal“, ergänzt der Bochumer Forscher.
Ein Beispiel aus der Coronasituation
Er gibt ein Beispiel aus der Corona-Situation: „Wenn Bürgerinnen und Bürger in der frühen Anfangsphase einer Pandemie skeptisch sind, ob ein Impfstoff noch unerwartete Nebenwirkungen zeigen wird, ist das eine nachvollziehbare Vorsicht, die die Personen zunächst durch striktes Einhalten von Vorsichtsregeln kompensieren können. Selbsttäuschung kann auch helfen, Panikreaktionen zu vermeiden“, schildert er. „Wenn jedoch mittelfristig klar wird, dass die Nebenwirkungen des Impfstoffs klar eingegrenzt sind, dann ist ein Zweifel unvernünftig und schlägt um in eine direkte Gefahr für sich selbst und andere. Die Selbsttäuschung bringt auch verzerrte Risikoeinschätzungen mit sich, denn das Gesundheitsrisiko ohne Impfung ist viel größer als das durch das Impfen. Selbsttäuschung kann also in Normalzeiten das Selbstbild, bewährte Denkweisen und Motivation zum Handeln stabilisieren, wird jedoch in Krisenzeiten, die radikales Umdenken und neue Handlungsweisen erfordern, zu einem Hemmschuh und bringt die Gesellschaft in Gefahr.“
Originalveröffentlichung
Francesco Marchi, Albert Newen: Self-deception in the predictive mind: Cognitive strategies and a challenge from motivation, in: Philosophical Psychology, 2022, DOI: 10.1080/09515089.2021.2019693