Münchner Missbrauchsgutachten: Kanzlei kündigt Veröffentlichung an

. Januar will die Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW) ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising veröffentlichen. Dies gab sie heute bekannt.
Am 20. Januar will die Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW) ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising veröffentlichen. Dies gab sie heute bekannt.

Benedikt XVI. (Foto: © Mario Bonotto | Dreamstime.com)

Das mit Spannung erwartete Gutachten zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising wird am 20. Januar veröffentlicht. Das teilte die damit beauftragte Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) am Donnerstag in München mit. Brisant daran ist, dass im Untersuchungszeitraum 1945 bis 2019 prominente Kirchenmänner an der Spitze des Erzbistums standen, allen voran der inzwischen emeritierte Papst Benedikt XVI., damals noch als Joseph Ratzinger, außerdem die Kardinäle Friedrich Wetter und Reinhard Marx, zudem Michael Faulhaber, Joseph Wendel sowie Julius Döpfner.

Ursprünglich sollte es im vergangenen Jahr veröffentlicht werden. Die Verschiebung begründeten die Anwälte im November mit neuen Erkenntnissen. Die Kanzlei hatte zudem stets betont, die Ergebnisse eigenverantwortlich zu präsentieren. Auch die Repräsentanten der Erzdiözese München und Freising würden die Ergebnisse erst im Zuge der Präsentation erfahren. Die Veranstaltung ab 11.00 Uhr soll aus dem Haus der Bayerischen Wirtschaft in München via Livestream übertragen werden.

Auftrag der Kanzlei ist es nach eigenen Angaben, sämtliche Fälle sexuellen Missbrauchs „im Hinblick auf Ordnungsmäßigkeit und Angemessenheit der Sachbehandlung“ zu prüfen und auch mögliche systemische Defizite zu benennen. Außerdem wolle man „gegebenenfalls und soweit rechtlich möglich“ diejenigen Repräsentanten des Erzbistums benennen, die nach Einschätzung der Juristen im Untersuchungszeitraum „möglicherweise fehlerhaft oder unangemessen im Zusammenhang mit der Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs gehandelt haben“.

Die Münchner Kanzlei war bereits in zwei anderen deutschen Bistümern als Gutachter tätig. In Aachen wurde ihre Untersuchung veröffentlicht, in Köln nicht. Der dortige Kardinal Rainer Maria Woelki machte methodische Mängel und äußerungsrechtliche Probleme geltend und beauftragte eine andere Kanzlei. Erst als deren Gutachten veröffentlicht war, konnten Interessierte und Journalisten die WSW-Untersuchung einsehen. Vollständig veröffentlicht wurde sie bisher nicht. Bereits 2010 hatte die Kanzlei ein erstes Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München und Freising erstellt. Auch dieses wurde nie komplett veröffentlicht. Zur Begründung verwies die Bistumsleitung auf den Datenschutz.

Darum geht es im zweiten Münchner Missbrauchsgutachten – Fragen und Antworten

Warum wurde diese zweite Untersuchung in Auftrag gegeben?

Als Hauptzweck wurde bei der Beauftragung Ende Februar 2020 die vollständige Veröffentlichung genannt. Der Bericht soll Versäumnisse einzelner Verantwortlicher benennen und klären, wie es dazu kommen konnte, dass Missbrauchsfälle vertuscht wurden. Es geht auch um die Jahre von 2010 bis 2019. Das ist im Wesentlichen die Amtszeit von Kardinal Reinhard Marx. Eine erste Untersuchung, die im Dezember 2010 abgeschlossen wurde, deckte den Zeitraum von 1945 bis 2009 ab.

Wieso wurde der erste Bericht nicht veröffentlicht?

Nach Auskunft der Erzdiözese München und Freising sprachen damals Datenschutzgründe dagegen. Der 250 Seiten umfassende Text liegt bis heute in einem Tresor im Münchner Ordinariat. Den Inhalt kennen nur Marx, sein langjähriger Generalvikar Peter Beer, und wenige andere Menschen. Einige Ergebnisse wurden publiziert und auf der Internetseite des Erzbistums eingestellt.

Was ist bekannt?

Dass von 1945 bis 2009 in der Erzdiözese 159 Priester wegen sexueller Übergriffe an Minderjährigen „auffällig geworden“ seien. Die Anwälte gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Verurteilt worden seien 26 Geistliche, 17 weiteren ließen sich Sexualdelikte nachweisen. Alle diese Priester seien inzwischen tot. Die Personalakten wiesen zum Teil erhebliche Lücken auf, in großem Umfang seien Dokumente vernichtet worden. Vor allem Kleriker hätten einen „rücksichtslosen Schutz des eigenen Standes“ betrieben, um die Opfer habe sich die Kirche nicht ausreichend gekümmert.

Wer sind die Anwälte?

Die Kanzlei WSW ist schon für mehrere Diözesen tätig geworden. Im Auftrag des Eichstätter Bischofs Gregor Maria Hanke untersuchte sie riskante Anlagegeschäfte mit Bistumsvermögen auf dem US-Immobilienmarkt. Für das Bistum Aachen legten die Münchner Anwälte im November 2020 eine Missbrauchsstudie vor. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki beauftragte sie ebenfalls mit einem solchen Gutachten. Kurzfristig zog er aber seine Zustimmung zur Veröffentlichung 2020 zurück, weil er es für mangelhaft und nicht rechtssicher befand, und gab einen weiteren Auftrag an andere externe Juristen.

Wie unabhängig ist die neue Studie?

So unabhängig, wie es eine Auftragsarbeit sein kann. Die Kanzlei hat schon einige Mandate von der Münchner Bistumsleitung erhalten, was intern und extern Kritik hervorgerufen hat. Spekuliert wird in diesem Zusammenhang über eine gewisse wirtschaftliche Abhängigkeit. Der frühere Richter am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, kritisierte in einem Gastbeitrag am 24. Dezember 2021 auf Spiegel-online das Verfahren generell als rechtswidrig. Schuld und Verantwortung kirchlicher Amtsträger müssten in einem kirchlichen Disziplinarverfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen festgestellt werden. Es gehe nicht an, über private Verträge privaten Anwaltskanzleien das Recht einzuräumen, „Urteile ohne Richter“ zu fällen und diese zu publizieren.

Wann und wie wird die Untersuchung veröffentlicht?

Der Termin wurde mehrfach Verschoben, zuletzt Anfang November 2021. Zur Begründung sagten die Anwälte, man müsse zuerst neu gewonnene Erkenntnisse überprüfen. Die Publikation wurde für die Woche vom 17. bis 21. Januar 2022 in Aussicht gestellt. Die Kanzlei legt Wert auf die Feststellung, dass sie dabei freie Hand hat. Kardinal Marx werde nicht vorher informiert. Am 13  Januar hat die Kanzlei die Veröffentlichung auf den 20. Januar terminiert.

Was kostet das Gutachten?

Für München liegt dem Vernehmen nach noch keine Rechnung vor. In Köln betrug ihr Honorar laut einer Aufstellung des dortigen Erzbistums 757.000 Euro.

Wer sind die wichtigsten lebenden Verantwortungsträger, um die es in München geht?

Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. (2005-2013) war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Nach ihm kam für 25 Jahre Kardinal Friedrich Wetter, bis 2008 Reinhard Marx übernahm. Aus Ratzingers Münchner Amtszeit lebt noch der damalige Generalvikar Gerhard Gruber. Ratzinger, Wetter und Gruber sind schon über 90 Jahre alt. Im Fokus stehen außerdem Peter Beer, von 2010 bis 2020 Generalvikar, heute Professor an der Universität Gregoriana in Rom und Mitarbeiter des päpstlichen Kinderschutzexperten Hans Zollner; und der langjährige Münchner Kirchenrichter Lorenz Wolf, der etliche Urteile in kirchlichen Missbrauchsprozessen zu verantworten hat. Mehrere Verfahren führte er im Auftrag der Kirchenleitung in Rom.

Von Christoph Renzikowski (KNA)