Notker Wolf, langjähriger Benediktiner-Abtprimas, sieht in einem Konsum- und Machtdenken die aktuell größten Probleme für das Christsein in Mitteleuropa.
Linz – Notker Wolf, langjähriger Benediktiner-Abtprimas, sieht in einem Konsum- und Machtdenken die aktuell größten Probleme für das Christsein in Mitteleuropa. „Wir brauchen auch in der Kirche Reformen der Macht- und Organisationsstrukturen. Es braucht unbedingt eine Gewaltenteilung in der Kirche“, sagte der frühere oberste Repräsentant des Benediktinerordens im Interview der Kirchenzeitung der Diözese Linz. Wolf vertrat von 2000 bis 2016 als Abtprimas die weltweit rund 7.500 Patres und 16.500 Schwestern des Ordens.
Notker Wolf fordert nüchterne Aufarbeitung
Doch trotz aller Strukturreformen komme es letztlich auf die Einzelnen an, „ob sie machthungrig sind oder loslassen können“, sagte Wolf. Mit Blick auf die Missbrauchskrise in der Kirche forderte er eine nüchterne Aufarbeitung. „Die erste Sorge gilt den Opfern, die oft für ihr Leben traumatisiert sind.“ Man dürfe aber neben den Missbrauchstätern auch die vielen guten Priester nicht übersehen. Wolf äußerte die Hoffnung, „dass durch die Missbrauchsfälle in der Kirche die Gesellschaft sensibler für den Missbrauch in den anderen Bereichen, wie etwa in den Familien, wird“.
Von Christen in anderen Kontinenten könne man hierzulande viel lernen, so der Ordensmann: „Von unseren vietnamesischen Schwestern und Brüdern zum Beispiel, dass man auch in Bedrängnis seinen Glauben in Freude leben kann.“ Die Christen würden in Vietnam noch immer vom kommunistischen Regime streng kontrolliert, aber ihre Widerstandskraft wachse daran. „Das können wir uns von ihnen abschauen: nicht zu jammern, sondern zu wachsen, auch wenn wir verleumdet werden.“
Gottesdienste mit mit vorgehaltenem Gewehr
In Haiti habe er einmal in einem Bergdorf Gottesdienst gefeiert – als erster Priester seit vier Jahren. „An diesem Tag hätten die Dorfbewohner zu Scheinwahlen gehen sollen, die der Diktator angesetzt hatte. Das haben sie nicht getan. Darum sind Soldaten gekommen, die von der Gabenbereitung bis zum Agnus Dei mit vorgehaltenem Gewehr gedroht haben“, berichtete Wolf. „Der Mut und die Unerschrockenheit, mit der diese Dorfbewohner die Situation über sich ergehen ließen, hat auch mir jede Angst genommen.“