Schuster warnt vor Schlussstrich unter Erinnerung an NS-Gräuel

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, warnt davor, die Erinnerung an die Vernichtung der Juden und die Gräuel der NS-Zeit zu verdrängen.
München – Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, warnt davor, die Erinnerung an die Vernichtung der Juden und die Gräuel der Nazi-Zeit zu verdrängen. Laut einer aktuellen Umfrage wollten 49 Prozent der Deutschen gerne einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen, erinnerte er in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" (Mittwoch) zum 9. November: "Ich würde diesen Menschen dringend empfehlen, sich mit einem Schoah-Überlebenden zusammenzusetzen. Noch leben einige von ihnen. Und ihre Traumata hallen noch in ihren Kindern und Enkeln nach und werden auch bei deren Nachfahren noch nicht verklungen sein."

Präsident Dr. Josef Schuster (Foto: Thomas Lohnes für Zentralrat der Juden)

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, warnt davor, die Erinnerung an die Vernichtung der Juden und die Gräuel der NS-Zeit zu verdrängen. Laut einer aktuellen Umfrage wollten 49 Prozent der Deutschen gerne einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen, erinnerte er in einem Gastbeitrag für die “Süddeutsche Zeitung” (Mittwoch) zum 9. November: “Ich würde diesen Menschen dringend empfehlen, sich mit einem Schoah-Überlebenden zusammenzusetzen. Noch leben einige von ihnen. Und ihre Traumata hallen noch in ihren Kindern und Enkeln nach und werden auch bei deren Nachfahren noch nicht verklungen sein.”

Schuster: „Ohne gelebte Erinnerungskultur gibt es auch keine demokratische Kultur“

“Ohne eine gelebte Erinnerungskultur gibt es auch keine demokratische Kultur der Bundesrepublik Deutschland”, fügte Schuster hinzu. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Erinnerung zu bewahren und weiterzuentwickeln: “Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Gleichzeitig wächst die Zahl an Menschen, die keine biografischen Bezüge zur NS-Zeit haben. All das macht das verantwortungsbewusste Erinnern nicht leichter.”

Schuster schrieb von einem “Paradigmenwechsel” in Deutschland: “Die Erinnerung an den Holocaust steht zur Disposition.” Dazu trügen auch kalendarische Zufälle bei, etwa dass der Fall der Mauer 1989 auch am 9. November stattfand, dem Tag der Novemberpogrome von 1938, die den “Anfang vom Ende jüdischen Lebens in Deutschland” markierten.

2022 sei ein Beispiel dafür, dass die Erinnerungskultur von verschiedenen Seiten in Gefahr sei, so Schuster weiter. Dabei kritisierte er unter anderem Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und den früheren Pink-Floyd-Musiker Roger Waters, die immer wieder zum Israel-Boykott aufriefen. Außerdem werde Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, oft als “kolonialistisches Projekt” diffamiert.

Auch die Documenta in Kassel habe “abstoßendste antisemitische Darstellungen, finanziert durch deutsche Steuergelder” gezeigt, ergänzte der Zentralratspräsident: “Dass so etwas mehr als 75 Jahre nach der Nazi-Barbarei in Deutschland möglich ist, hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorzustellen gewagt. Erschreckend waren dabei nicht nur die Vorkommnisse in Kassel, sondern wie damit umgegangen wurde.”

Israelfeindliche und antisemitische Haltungen “sind im internationalen Kulturbetrieb schon lange keine Außergewöhnlichkeit mehr”, ergänzte Schuster. Auch in Politik und Medien nähmen “Aussagen von geistigen Brandstiftern, wie nach meiner Überzeugung Gauland und Höcke” zu. Zudem führe die “Beharrlichkeit der AfD” dazu, “dass dieser Revisionismus auch im bürgerlichen Lager aufgegriffen wird” und dass etwa Historiker in renommierten Medien ein “Recht auf Vergessen” einforderten.

Für Mittwoch haben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der Zentralrat der Juden zu einer Tagung unter dem Titel “Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen” ins Schloss Bellevue eingeladen. Dabei wollen Zentralratspräsident Josef Schuster, Historiker und Politologen darüber debattieren, wie Gedenktage in Deutschland gelingen können und die Erinnerungskultur weiter entwickelt werden sollte.

Stichwort: Novemberpogrome von 1938

Die Novemberpogrome von 1938 waren eine vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Zerstörung von Einrichtungen jüdischer Bürger im gesamten Deutschen Reich. Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden in der Zeit vom 7. bis 13. November 1938 im damaligen Reichsgebiet zwischen 400 und 1.300 Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben. Mehr als 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie Tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Rund 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt.

Mit dem vom Volksmund als „Reichskristallnacht“ bezeichneten Pogrom begann eine neue Phase der Verfolgung und Diskriminierung, die im Holocaust – der Deportation und Vernichtung von mehr als sechs Millionen Juden in Konzentrationslagern – endete. Der regimekritische, ironische Unterton der Bezeichnung “Reichskristallnacht”, der eine reichsweite koordinierte Aktion unterstellt, wurde später nicht mehr verstanden. Der Begriff wurde im Nachhinein von Manchen als beschönigend empfunden.

Nach den Novemberpogromen bürdete die Reichsregierung den Juden eine “Sühneleistung” von einer Milliarde Reichsmark auf. Außerdem leiteten die Nationalsozialisten deren vollständige Ausschaltung aus dem deutschen Wirtschaftsleben, die Schließung aller jüdischen Geschäfts- und Handwerksbetriebe und den Ausschluss der jüdischen Kinder von öffentlichen Schulen in die Wege. Der Besuch von Theatern, Konzerten und Kinos wurde Juden verboten.

Weniger Kritiker

Die NSDAP deklarierte die Gewaltwelle als spontanen Akt des Volkszorns und als Reaktion auf die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris durch den 17-jährigen Juden Herschel Grünspan. In Wirklichkeit war das Pogrom aber von der Parteiführung geplant und organisiert. Die Kirchen schwiegen weitgehend zu den Ausschreitungen und Morden. Zu den wenigen mutigen Kritikern zählte der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg. Er lud am Tag nach den Pogromen zu einem Gottesdienst “für die verfolgten nicht-arischen Christen und für die Juden” ein. Dafür wurde er zu Gefängnis verurteilt und ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Auf dem Weg dorthin starb er.

rwm/kna