Der ukrainische Staat kämpft gegen orthodoxe Geistliche, denen er prorussische Propaganda vorwirft. Jetzt will Präsident Selenskyj sogar religiöse Organisationen verbieten lassen, wenn sie mit Moskau verbunden sind.
Kiew – Erst führte der ukrainische Inlandsgeheimheimdienst Razzien in Klöstern durch. Nun gerät die lange dem Moskauer Patriarchat unterstehende ukrainisch-orthodoxe Kirche richtig in Bedrängnis. Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj entschied, dass die Regierung dem Parlament binnen zwei Monaten einen Gesetzentwurf über die „Unmöglichkeit der Tätigkeit religiöser Organisationen in der Ukraine“ vorlegen muss, „die mit Einflusszentren in der Russischen Föderation verbunden sind“. Angesichts von Russlands Angriffskrieg könnte die Ukraine also im Frühjahr Pfarreien und Klöster dichtmachen oder vielleicht sogar eine ganze Kirche verbieten.
„Mit diesen und anderen Entscheidungen garantieren wir die spirituelle Unabhängigkeit der Ukraine“, erklärte Selenskyj in einer Videobotschaft vom Donnerstagabend. Der 44-Jährige betonte, es würden nur rechtlich zulässige Schritte unternommen. Er sprach von „ausgewogenen Entscheidungen“ und „nationalen Interessen“. Im Visier hat er die ukrainisch-orthodoxe Kirche, auch wenn er sie bloß ein Mal klar beim Namen nannte. Ihr neues Kirchenstatut solle geprüft werden. Falls es weiter Verbindungen zum Moskauer Patriarchat gebe, müssten „die gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen“ ergriffen werden, so der Präsident.
„Leider konnten selbst der russische Terror und der großangelegte Krieg einige Akteure nicht überzeugen, dass es sich lohnt, die Versuchung des Bösen zu überwinden“, kritisierte Selenskyj. Nun müsse sichergestellt werden, dass keine vom „Aggressorstaat“ Russland abhängige Person die ukrainische Bevölkerung manipuliere und das Land von innen heraus schwäche. Unter seinem Vorsitz beschloss der nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat ein fünf Punkte umfassendes Maßnahmenpaket. Mit der geplanten verstärkten Kontrolle von Religionsgemeinschaften soll dem Protokoll zufolge eine „Spaltung der Gesellschaft aus religiösen Gründen“ verhindert und eine „Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft“ gefördert werden.
Die ukrainisch-orthodoxe Kirche hatte sich erst im Mai vom Moskauer Patriarchen Kyrill I. losgesagt, weil dieser Russlands Krieg gegen die Ukraine öffentlich unterstützt und für einen Sieg Moskaus betet. Die formelle Unabhängigkeit der Kirche reicht aber vielen Ukrainerinnen und Ukrainern nicht. In einer Umfrage sprach sich die Mehrheit für ein Verbot der Kirche aus.
Zum orthodoxen Christentum bekennen sich zwar rund 60 Prozent der Bevölkerung. Doch nur eine Minderheit von ihnen gehört inzwischen mehr der umstrittenen Kirche an. Die große Mehrheit fühlt sich der 2018 gegründeten „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ zugehörig. Sie wurde mit Unterstützung des Oberhaupts der Weltorthodoxie, des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. von Konstantinopel, und des damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko gegründet. Diese Kirche gibt sich sehr ukrainisch-patriotisch und grenzt sich stark von Russland ab.
Im Gegensatz zu Poroschenko hatte sich Selenskyj bislang nicht mit der alten orthodoxen Kirche der Moskauer Richtung angelegt. Nun reagiert er aber mit seinen Schritten auf einen Parlamentsantrag von mehr als 30 Oppositionsabgeordneten, hauptsächlich von Poroschenkos Partei „Europäische Solidarität“. Sie fordern, der Kirche das weltberühmte Kiewer Höhlenkloster wegzunehmen und sie ganz zu verbieten. Dem schlossen sich binnen weniger Tage 25.000 Bürger in einer Online-Petition an. Auch mehrere Regional- und Kommunalparlamente wie zum Beispiel von Lwiw (Lemberg) riefen die Kammer in Kiew auf, die Kirche zu verbieten. Der Stadtrat von Odessa hingegen lehnte einen entsprechenden Appell mit großer Mehrheit ab.
Bislang dürfen nur Gerichte über ein Verbot religiöser Organisationen entscheiden. Sie mussten das aber bislang nicht, weil es offenbar keine derartigen Anträge gegen einzelne Kirchengemeinden gab. Der Rechtsexperte Dmytro Wowk von der Juristischen Universität Charkiw sieht die neue Entwicklung kritisch. „Das außergerichtliche Verbot der gesamten Kirche wird sehr problematisch sein“, sagte er am Freitag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). „Sie werden eher versuchen, Pachtverträge von historisch bedeutsamem staatlichen Kirchenbesitz aufzuheben und Sanktionen gegen einige Geistliche zu verhängen.“
Die ukrainisch-orthodoxe Kirche droht jedenfalls ihren symbolträchtigen Hauptsitz, das Kiewer Höhlenkloster, zu verlieren. Es gehört zum Uneso-Weltkulturerbe und ist ein Touristenmagnet. Zuletzt riegelten das Kloster Polizisten und Mitarbeiter des Geheimdienstes SBU ab und durchsuchten es. Es werde geprüft, ob Objekte der lange mit dem Moskauer Patriarchat verbundenen Kirche als Verstecke für Saboteure und Waffen genutzt werden, hieß es. Waffen wurden bei der Kontrolle nicht gefunden. Der SBU beanstandete aber prorussisches Propagandamaterial.