Rassismus, Pornografie, Missbrauch, Gewalt: „Verstörender Alltag im Klassenchat“

Ahnungslose Eltern: Was ihre Kinder in Klassenchats sehen und selbst verbreiten, wissen Mütter und Väter oft nicht. Schulleiterin Silke Müller hat deshalb jetzt ein Buch geschrieben, das aufrütteln soll.
Ahnungslose Eltern: Was ihre Kinder in Klassenchats sehen und selbst verbreiten, wissen Mütter und Väter oft nicht. Schulleiterin Silke Müller hat deshalb jetzt ein Buch geschrieben, das aufrütteln soll.

–Symbolfoto:Markus Winkler/Pixabay

Ein Welpe, der totgetreten wird. Ein Mann, der vor laufender Kamera kastriert wird. Ein kleines Mädchen, das vergewaltigt wird. Fotos oder Videos von diesen Szenen hat die niedersächsische Schulleiterin Silke Müller auf den Smartphones ihrer Schüler gefunden – vielfach geteilt auf Social Media oder verschickt in Klassenchats. Dies seien keine Einzelfälle, sagt die Lehrerin. Deshalb hat Müller, die auch Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen ist, jetzt ein Buch geschrieben. Darin fordert sie von Eltern und Politik, nicht länger wegzusehen.

„Der verstörende Alltag im Klassenchat“ – Schulleiterin verfass Buch

„Ich will aufrütteln und ein Bewusstsein dafür schaffen, dass unsere Kinder und Jugendlichen in ihrem Alltag und ihrer Lebenswelt durch die negativen, mehr und mehr verrohenden Entwicklungen im Netz so gefährdet und beeinflusst sind wie nie zuvor“, sagt die 43 Jahre alte Pädagogin einer Oberschule im Landkreis Oldenburg. Ihr Buch „Wir verlieren unsere Kinder. Der verstörende Alltag im Klassenchat“ erscheint an diesem Dienstag.

Dabei betont Müller, dass es nicht die Kinder und Jugendlichen seien, die Schuld an dieser Entwicklung trügen. „Sondern wir, die es schlicht versäumt haben, ethische Werte und Normen für einen Umgang miteinander im Netz auszuhandeln.“ Sie macht bei vielen Kindern unreflektiertes und sich selbst gefährdendes Agieren im Netz aus – vorgelebt durch Erwachsene.

Auf mehr als 200 Seiten gibt die Autorin Beispiele von Fällen, die demnach an ihrer Schule passiert sind. Da ist etwa ein zwölfjähriges Mädchen, das heimlich mitten im Unterricht einen expliziten Chat mit einem unbekannten Mann hatte – um ihn dazu zu bewegen, ihr ein Bild von seinem Geschlechtsteil zu schicken. In dem anschließenden Gespräch mit der Schulleiterin sagte das Mächen, es handele sich „dabei doch um eine Challenge, die jeder kennt und bei der total viele mitmachen“.

Polizeiliche Kriminalitätsstatistik machte deutlich steigenden Trend aus

Zunehmend normal scheint es für Kinder auch zu sein, Kinderpornos in ihren Chatgruppen weiterzuschicken. Die aktuelle Polizeiliche Kriminalitätsstatistik machte dabei kürzlich einen deutlich steigenden „Trend“ aus. Laut einer Sonderauswertung für das Jahr 2021 waren von rund 28.600 Tatverdächtigen im Zusammenhang mit Kinderpornografie im Internet 54 Prozent minderjährig.

Der Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes, Joachim Schneider, forderte in diesem Zusammenhang unlängst mehr Aufmerksamkeit von den Eltern: „Niemand würde sein gerade eingeschultes Kind allein über eine fünfspurige Autobahn schicken. Und einen ebensolchen Schutz braucht es eben auch auf der Datenautobahn.“

Diplom-Psychologin Christa Gebel vom JFF Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis weist daraufhin, dass selbst eher harmlosere Darstellungen Heranwachsenden vermitteln könnten, dass sexualisierte Darstellungen von Kindern normal seien. „Das schwächt die Abwehr gegenüber Erwachsenen, die versuchen, sich in Chats von Kindern einzuschleichen und von ihnen entsprechende Fotos zu erbitten.“ Wenn ein Kind im Netz härtere kinderpornografische Bilder zu sehen bekomme, sei es wichtig, dass es wisse, dass es sich an seine Eltern wenden könne.

Rassistische Darstellungen werden geteilt

Auch rassistische Darstellungen werden gerne geteilt oder solche, die Hitler oder den Holocaust verharmlosen. Dazu zitiert Schulleiterin Müller den 14-jährigen Chris: „Die sind zwar oft widerlich, ist aber egal, macht ja jeder.“

In ihrer Schule hat Müller längst Gegenmaßnahmen ergriffen. So gibt es wöchentlich eine Social-Media-Sprechstunde, damit die Kinder – sollten sie verstörende Inhalte auf ihren Handys gesehen haben – sich unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit ihren Gefühlen und Fragen an einen Erwachsenen wenden können. Das Wichtigste sei, Vertrauen zu ihnen aufzubauen, hinzuschauen und sich selbst zu informieren, appelliert Müller an die Eltern.

Diesen zeigt sie auf Elternabenden regelmäßig die Fotos und Videos, die sie bei den Kindern auf den Handys gefunden hat. Oft seien die Bilder so verstörend und ekelerregend, dass viele Eltern gar nicht hingucken könnten.

Von Nina Schmedding (KNA)

Tipps für Eltern im Umgang mit Sozialen Medien

Schulleiterin und Autorin Silke Müller ist auch Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen. Sie empfiehlt Eltern unter anderem folgende Verhaltensweisen, um Kinder bestmöglichst vor etwaigen Gefahren im Internet zu schützen:

Sich fortbilden: Sich bei den bekanntesten Netzwerken und Plattformen ein eigenes Profil anlegen und zu Inhalten recherchieren. Eltern sollten die Funktionen und Mechanismen verstehen, um ihrem Kind auf Augenhöhe zu begegnen.

Chatfunktionen selbst testen: Kinder sollten kein Online-Spiel spielen, das Eltern nicht selbst mindestens eine Woche gespielt haben, so Pädagogin Müller. Eltern sollten dabei auch die Chatfunktionen testen, damit sie das wachsende Suchtpotential selbst erleben.

Ab und zu auch gemeinsam spielen oder das Kind fragen, ob man sich einfach mal dazusetzen darf, weil es einen interessiert, was das Kind macht.

Über Gefahren in der digitalen Welt sprechen, bevor das Kind einen eigenen Zugang zum Netz bekommt. Sich auch gemeinsam gute und schlechte Beispiele bei TikTok und Co anschauen.

Verhalten dem Kind vorleben

„Fake News“ thematisieren: den Wahrheitsgehalt von Nachrichten wie selbstverständlich überprüfen, indem man zumindest noch ein, zwei weitere Nachrichten oder Artikel liest, um das jeweilige Thema zu prüfen. Dieses Verhalten dem Kind vorleben. Online-Spiele zum Thema spielen.

Sicherheitseinstellungen überprüfen: die Profile der Kinder bei Sozialen Netzwerken kontrollieren; gemeinsam die Blockierfunktion entdecken und zeigen, wie man Profile auf privat umstellt. Das direkte Herunterladen von Bildern und Videos aus Messengern in die Fotogalerie auf dem Smartphone unterbinden, indem man mit dem Kind die entsprechenden Einstellungen vornimmt.

Immer wieder erklären, dass nichts im Netz privat bleibt

Follower-Liste überprüfen – gemeinsam mit dem Kind

Gemeinsamen medienfreien Tag in der Familie einführen

Kein Smartphone zur Schlafenszeit im Kinderzimmer und gemeinsam essen ohne Handy

Vertrauensbasis schaffen: Dem Kind immer wieder sagen, dass man ein offenes Ohr für seine Anliegen hat und nichts von dem verraten wird, was es erzählt.

Offen über Sexualität sprechen, um Barrieren in der Kommunikation abzubauen. Nur dann wende sich das Kind an seine Eltern, um über Pornografie oder Missbrauch zu berichten, betont Müller.

Buchhinweis

  • Silke Müller: Wir verlieren unsere Kinder. Gewalt, Missbrauch, Rassismus: Der verstörende Alltag im Klassenchat. München 2023, Droemer Knaur. Erscheinungstag: 2. Mai.