Der Gelsenkirchener Arzt Sören Leymann rettete mit der Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany Überlebende nach dem Erdbeben in der Türkei.
Gelsenkirchen/Kirikhan – Seit vier Tagen liegt Zeynep unter den tonnenschweren Trümmern ihres einstigen Wohnhauses – eingequetscht zwischen ihrem toten Mann und den Leichen ihrer drei Kinder. Die Erde hatte hier, im Südosten der Türkei, am 6. Februar derart stark gebebt, dass das siebenstöckige Gebäude wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen ist. Seit fast 50 Stunden versucht ein Team der Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany die schwerverletzte Frau zu bergen. „Sie war rund zwei Meter von uns entfernt, wir konnten mit ihr sprechen und sie mit Wasser sowie Medikamenten versorgen“, erzählt Arzt Sören Leymann. „Doch wir kamen einfach nicht näher an sie ran …“
Sören Leymann ist Unfallchirurg am Marienhospital Gelsenkirchen. Ehrenamtlich engagiert er sich seit Anfang dieses Jahres bei „International Search-and-Rescue“ – kurz I.S.A.R. – Germany. Die gemeinnützige Hilfsorganisation wird 2003 in Duisburg gegründet. Nach Naturkatastrophen, Unglücksfällen und bei humanitären Katastrophen leistet I.S.A.R. weltweit Hilfe. Rettungsspezialisten wie Feuerwehrleute, Mediziner und Statiker sind für die Organisation ebenso tätig wie speziell ausgebildete Rettungshunde.
Zu den Aufgaben von I.S.A.R. gehört die Suche und Rettung von Erdbebenopfern – so wie im Februar dieses Jahres in der Türkei. „Zunächst suchen die Rettungshunde in den Trümmern nach Überlebenden“, erklärt Sören Leymann. Schlagen die Tiere Alarm, bestimmen die Retter mittels technischer Ortungsgeräte wie einer Endoskop-Kamera die genaue Lage des Opfers. „Nachdem der Teamleiter und der Statiker eine Stelle ausgemacht haben, an der wir anfangen können, sind die sogenannten Berger am Zug – das sind zumeist Feuerwehrleute, die versuchen, die Verschütteten zu erreichen.“ Das geschieht mit schwerem Gerät wie Aufbruchhämmern, Trennschleifern oder Beton-Kettensägen – manchmal allerdings auch mit bloßen Händen. „Wir Mediziner sind dafür da, unser Team zu versorgen, falls sich jemand verletzt“, führt er weiter aus. „Wenn wir die Opfer erreicht haben, behandeln wir sie unter Tage, bis wir sie den Rettungsdiensten übergeben können.“
„Wir haben viele Leichen gesehen“
In manchen Fällen übernimmt I.S.A.R. auch die komplette medizinische Versorgung am Einsatzort. „Das klären wir im Vorfeld der Einsätze mit dem jeweiligen Land ab“, erzählt Sören Leymann. „Wurde zum Beispiel bei einem Erdbeben das Krankenhaus zerstört, bauen wir ein Feldlazarett mit allem Drum und Dran auf – mit Röntgen-Abteilung, Operationssaal und Geburtenstation –, um vor Ort die Patienten zu behandeln.“ Nach dem schweren Erdbeben in Haiti im Jahr 2010 verfährt die Organisation so.
Durch einen ehemaligen Arbeitskollegen kommt Sören Leymann zu I.S.A.R. Im Ausland hat er bereits zuvor Erfahrungen gesammelt: Einen Teil seiner Ausbildung absolviert er in einem Township – einem Armenviertel – im südafrikanischen Kapstadt. „Nach dem Erdbeben in Nepal im Jahr 2015 habe ich mit einer anderen Hilfsorganisation dort in einem Krankenhaus ausgeholfen und mit dem Essener Verein ‚Chance for growth‘ leiste ich seit einigen Jahren Entwicklungshilfe auf den Philippinen“, erzählt er. „Jedoch ist die Arbeit schwierig mit der Familie zu vereinbaren, weil die Einsätze zumeist lange dauern.“ I.S.A.R. bleibe mit einem Team nur maximal zehn Tage vor Ort, dann gehe es zurück in die Heimat. Bevor er vollwertiges Mitglied wird, muss er ein Training absolvieren. „In Hünxe hatten wir im vergangenen Jahr eine Übung, bei der wir mächtig unter Druck gesetzt wurden“, erinnert er sich. „24 Stunden lang mussten wir unaufhörlich Patienten mit verschiedensten Verletzungen versorgen – damit müssen wir auch im realen Einsatz klarkommen.“ Mit den schweren Geräten, mit denen Verschüttete geborgen werden, macht sich Sören Leymann ebenfalls vertraut. „Und ich musste herausfinden, ob ich das Lagerleben unter zum Teil widrigen Bedingungen ertrage“, sagt er.
Auf die technischen und medizinischen Herausforderungen im Katastrophengebiet habe ihn das Training gut vorbereitet. „Auf die Schicksale vor Ort können die Übungen einen jedoch nicht vorbereiten“, räumt er ein. „Laut meiner Kollegen, die schon lange dabei sind, war die Türkei der heftigste Einsatz in der Geschichte von I.S.A.R. – wir haben viele Leichen gesehen, darunter auch zahlreiche Kinder.“ Die Toten habe er zwar realisiert. „Aber in dem Moment war ich so darauf fokussiert, die Überlebenden zu bergen, dass ich das Grauen ausgeblendet habe – das ploppt erst später auf, wenn Ruhe einkehrt.“
Vor zwei Jahren wurde schon I.S.A.R. Turkey gegründet
Für den Gelsenkirchener Arzt ist die Türkei der erste Einsatzort für die Hilfsorganisation: In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar schlägt um 4 Uhr sein Handy Alarm. Rund zwei Stunden zuvor hat ein Erdbeben einen Landstrich im Südosten der Türkei und im angrenzenden Syrien verwüstet. „Zunächst wurden alle Mitglieder informiert und wir mussten angeben, wer spontan mitfliegen kann“, erzählt er. „Nach rund einer halben Stunde hatte I.S.A.R. alle Rückmeldungen erhalten und konnte ein Team zusammenstellen.“
Am Morgen des 6. Februar fährt Sören Leymann noch wie gewohnt zur Arbeit. „Sehr früh habe ich aber die Nachricht bekommen, dass ich dabei bin.“ Er klärt den Einsatz mit der Geschäftsführung des Marienhospitals ab. „Eine halbe Stunde später saß ich bereits im Auto auf dem Weg nach Hause, wo die gepackte Tasche auf mich wartete.“ Vom Flughafen Köln/Bonn aus fliegt das 42-köpfige Team mitsamt sieben Hunden und 16 Tonnen Gepäck nach Gaziantep in die Türkei, wo es am darauffolgenden Morgen ankommt.
„Wir hatten vor zwei Jahren I.S.A.R. Turkey gegründet – eigentlich im Hinblick auf ein Erdbeben in Istanbul, das viele Experten erwarten“, erzählt er. „Nun war das unser Vorteil: Wir hatten schon Mitarbeiter vor Ort, die sich um die Logistik gekümmert haben.“ Mit dem Bus geht es rund 150 Kilometer nach Südwesten, in die Stadt Kirikhan nahe der Grenze zu Syrien. „Am Flughafen und auf dem Weg zum Einsatzgebiet waren keine Zerstörungen zu sehen.“
1.000 Nachbeben erschüttern die Region
Anders sieht das am Zielort aus: „Wir mussten erstmal schauen, wie wir reinkommen“, erzählt Sören Leymann. Noch aus dem Bus heraus setzt die Hilfsorganisation das erste Team ab. „Zu diesem Zeitpunkt hatten die Angehörigen die Verletzten und oberflächlich Verschütteten bereits weggebracht.“ Während ein Team mit der Bergung beschäftigt ist, suchen andere Mitglieder parallel nach weiteren Überlebenden. „In den ersten 48 Stunden haben wir vielleicht zwei oder drei Stunden pro Tag geschlafen.“
Rund 1.000 Nachbeben erschüttern die Region, während I.S.A.R. ihrer Arbeit nachgeht. „Im Tunnel hatte ich keine Angst“, sagt Sören Leymann. „Aufgrund des schweren Geräts wackelt ohnehin alles und es herrscht eine Wahnsinns-Geräuschkulisse.“ Sicherheit gibt ihm das Team. „Ich weiß, dass ich mich auf meine Kollegen zu 100 Prozent verlassen kann und die Trümmer zuvor von unserem Statiker begutachtet wurden – wäre es zu gefährlich, würde ich da nicht reingehen.“
Brenzliger sind für ihn die Rahmenbedingungen: „Wir wussten schon im Vorfeld, dass Rebellen im Grenzgebiet unterwegs und illegale Waffen im Umlauf sind“, erzählt er. „Einmal wurden wir vom türkischen Militär umstellt.“ Die Soldaten passten auf das Team auf, heißt es von offizieller Seite. „Aber die Situation hatte einen ganz unangenehmen Beigeschmack.“ Nach einigen Tagen sei bei manchen Überlebenden die Hilflosigkeit in Wut umgeschlagen. „Die Menschen bekamen keine staatliche Hilfe und keine medizinische Versorgung … – wir wurden nicht angegangen, andere Teams haben aber durchaus von Übergriffen berichtet.“
Ein harter Schlag für das gesamte Team
Vier Verschüttete befreit I.S.A.R. lebendig aus den Trümmern. „Zwei Frauen und einen 16-jährigen Jungen konnten wir in der ersten Nacht bergen“, berichtet Sören Leymann. Bei Zeynep gestaltet sich die Rettung weitaus komplizierter: „Die Frau haben wir erst 50 Stunden nach dem Erdbeben geortet“, sagt er. „Das war extrem, denn nach so langer Zeit nimmt die Wahrscheinlichkeit rapide ab, Überlebende zu finden.“
Das Team findet sie inmitten eines riesigen Haufens Schutt, der zuvor ein siebenstöckiges Wohnhaus war. „Sie lag zwischen massiven Betonplatten und jeder Menge Stahlbeton, was die Bergung sehr schwierig gemacht hat.“ Das Team arbeitet in zwei Schichten, um zu der 40-Jährigen vorzudringen. „Bei jedem Schichtwechsel waren wir uns sicher, sie nun endlich zu erreichen – und dann mussten wir doch wieder auf das nächste Team vertrauen.“ Während der Rettungsaktion harrt Zeyneps Schwester an den Trümmern aus.
Dann kommen die Retter bis auf rund zwei Meter an die Frau heran. „Über eine kleine Öffnung hatten wir Blickkontakt und konnten mit ihr sprechen“, erzählt Sören Leymann. „Ich habe sie gefragt, wie es ihr geht, und erklärt, dass der Lärm um sie herum von unseren Geräten und nicht von weiteren Erdbeben kommt – davor hatte sie Panik.“ Er und zwei weitere Ärzte versorgen die Verschüttete mit Wasser und Medikamenten. „Aber wir kamen partout nicht näher an sie heran.“ Das Team muss sich einen anderen Zugang suchen, um die Frau zu bergen. Nach mehr als 50 Stunden gelingt es den Rettern schließlich, Zeynep durch eine kleine Öffnung zu befreien.
Letztendlich schafft es die 40-Jährige jedoch nicht. „In der Nacht, nachdem wir sie gerettet haben, ist sie im Krankenhaus verstorben“, erzählt Sören Leymann. Nach all den Stunden, die das Team mit Zeynep unter Tage verbracht habe, sei eine Art Beziehung zwischen ihr und den Rettern entstanden. „Das war ein harter Schlag für das gesamte Team – auch, wenn uns allen klar war, dass sie schwer verletzt sein musste.“
Zurück in der Heimat braucht er eine Weile, um das Erlebte zu verarbeiten. „Es war ein Stück weit traumatisch, jedoch bin ich froh, dabei gewesen zu sein“, sagt Sören Leymann. „Mit diesem Team würde ich jederzeit wieder in ein Katastrophengebiet fliegen – überall auf der Welt.“ Die Tasche steht bereits gepackt zuhause.
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